Haben Grundstückseigentümer Millionen zu viel bezahlt?
Es geht um den Fall des Hausbesitzers Manfred Hebbel. Der pensionierte Elektroingenieur besitzt ein 440 Quadratmeter großes Grundstück in der Wederstraße im Berliner Bezirk Neukölln. Die sechs Wohnungen seines Hauses sind günstig vermietet. Er nimmt Kaltmieten zwischen 3 € und 3,50 €/qm.
Das Viertel rund um die Wederstraße zählt zu jenen 22 Altstadtquartieren, die der Berliner Senat zwischen 1993 und 1995 im Rahmen des ersten Gesamtberliner Stadterneuerungsprogramms zu Sanierungsgebieten erklärte. Damit waren die Grundlagen für eine Beteiligung der Grundstückseigentümer an den Kosten der Sanierungsarbeiten geschaffen.
Nach Abschluss der Arbeiten erhalten die Eigentümer von den zuständigen Bezirksämtern Zahlungsaufforderungen. Eigentümer Manfred Hebbel flatterte Anfang September ein Bescheid über 7.300 € ins Haus. Er legte gegen die Höhe des Betrags Widerspruch ein und bat seinen Bruder Hartmut Hebbel, den Widerspruch mit einem Gutachten zu untermauern.
Hartmut Hebbel ist emeritierter Professor für empirische Wirtschaftsforschung und hatte am Institut für Informatik der Universität der Bundeswehr in Hamburg gelehrt. In einem 19-seitigen Gutachten, das der Redaktion der Fachzeitschrift IVV immobilien vermieten & verwalten vorliegt, kommt der Experte für empirische Wirtschaftsforschung zu dem Schluss: „Die im Amtsblatt abgedruckten Formeln sind rechnerisch und logisch falsch. Der Bodenwert zu Beginn der Sanierung wurde auf Null gesetzt, was unumstritten falsch ist, …“ Diese falsche Formel, so Prof. Hebbel gegenüber der IVV, führe regelmäßig zu einem Ausgleichsbetrag, der höher sei als die gesamte Bodenwerterhöhung. Diese Werterhöhung ist die Summe der sanierungsbedingten Wertveränderung plus sonstiger allgemeiner Wertsteigerungen.
Sind Grundstücke in der Hauptstadt wertlos?
Berliner Grundstücke von Amts wegen vor einer Sanierungsmaßnahme grundsätzlich wertlos – der Vorwurf ist schwerwiegend, doch Gutachter Hebbel geht davon aus, dass jeder mathematisch Interessierte die Herleitung nachvollziehen könne. Bestätigt wurden seine Berechnungen durch die Professorenkollegen Walter Krämer vom Institut für Wirtschafts- und Sozialstatistik der TU Dortmund sowie Ulrich Rendtel, Wirtschaftswissenschaftler am Institut für Statistik und Ökonometrie der FU Berlin.
Das Gutachten hat im ersten Schritt der Auseinandersetzung nichts bewirkt, denn das zuständige Bezirksamt Berlin-Neukölln hat den Widerspruch gegen den Zahlungsbescheid zurückgewiesen. Hausbesitzer Manfred Hebbel hat über seinen Anwalt das Verwaltungsgericht Berlin angerufen. Er will damit die Aussetzung der Vollziehung des Zahlungsbescheides erreichen. Auf Nachfrage der IVV war die Pressestelle der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung unter Hinweis auf das schwebende Widerspruchsverfahren zu einer Stellungnahme vorerst nicht bereit.
In der Vergangenheit mussten sich Gerichte immer wieder mit Einsprüchen von Grundstückbesitzern befassen, die sich gegen die Höhe des von ihnen geforderten Beitrags für die Quartiersverschönerung zur Wehr setzten. Streitpunkt der bisherigen Widersprüche und Klagen waren insbesondere die als subjektiv empfundenen Bewertungskriterien, mit denen Bezirksämter Wertsteigerungen von Grundstücken festlegen. Die Rechtsprechung hat hier durchaus zum Nachteil von Eigentümern Ermessungsspielräume zugelassen.
Maßgeblicher Schritt zur Berechnung des Ausgleichsbetrags ist die Ermittlung der sanierungsbedingten Bodenwertsteigerung, also der Differenz zwischen Anfangs- und Endwert. Die Berliner Bezirksämter stufen den Zustand eines Grundstücks vor und nach der Sanierung mittels eines Klassifikationsrahmens ein. Dieser enthält Kriterien wie die Bebauungsdichte, die Ausstattung der Wohnungen oder das Stadtbild. Die Zustände werden dazu jeweils mit Noten von 1 bis 5 bewertet. War zum Beispiel zu Beginn der Sanierung eine „erhebliche Beeinträchtigung der Wohnverhältnisse“ durch die Bebauungsdichte gegeben, bedeutet das Note 5. Ist die Beeinträchtigung nach der Sanierung nur noch „mittelschwer“, führt dies zur Note 3. Die Noten der einzelnen Lagekriterien werden mit Hilfe der sogenannten Zielbaummethode zu einer Gesamtnote zusammengefasst. Je nach Wichtigkeit der Kriterien gibt der Zielbaum der entsprechenden Note ein bestimmtes Gewicht, mit dem sie in die Gesamtnote einfließt. Als Ergebnis des Zielbaums ergeben sich zwei Durchschnittsnoten – eine für den Zustand vor Beginn der Quartierssanierung und eine nach Vollendung der Sanierung.
Erstmals Widerspruch wegen falscher Rechenformel
Der Fall Hebbel ist von anderer Qualität. Erstmals wird nicht um den subjektiven Charakter der „Notengebung“ für Grundstücke, sondern um eine rein mathematische Frage gestritten. Gutachter Hebbel schreibt in seiner Stellungnahme zum Eilantrag: „Die zahlreichen Urteile und Beschlüsse der Verwaltungsgerichte … beziehen sich ausschließlich auf die Prüfung der Multikriterienanalyse mit der Berechnung der Noten und nicht auf die Herleitung der Formel, die bisher nicht hinterfragt wurde. Insofern unterscheidet sich die Situation vollständig. Es geht nicht mehr um Wertungsfragen und Ermessungsspielräume, sondern nur noch um die Frage, ist die Formel richtig oder falsch berechnet.“
Die Formel, die von wertlosen Berliner Grundstücken ausgeht, findet sich im Amtsblatt für Berlin Nr. 9 vom 20. September 2009. Mindestens seit diesem Datum bestimmen die Bezirksämter die Höhe des Ausgleichsbetrages auf dieser Grundlage.
Schwer vorstellbar ist, dass ein Gericht die Zahlungsbescheide der Vergangenheit als unrechtmäßig erklärt. Berliner Grundstückseigentümer haben sich inzwischen mit vielen Millionen an der Sanierung von Altstadtquartieren beteiligt. Um welche Größenordnungen es dabei geht, lässt sich der Antwort der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung auf eine Kleine Anfrage des CDU-Abgeordneten Mario Czaja vom Oktober 2010 entnehmen. Danach waren bis zum 30. Juni 2010 in 20 Sanierungsgebieten für 23 % der betroffenen Grundstücke Bescheide über Ausgleichsbeträge erteilt worden; Gesamtsumme der Forderung damals: 54,47 Mio. €. Gezahlt hatten Grundstückseigentümer bis zu diesem Zeitpunkt 39,1 Mio. €.
Nach Auskunft der Senatsverwaltung ergab sich im Neuköllner Sanierungsquartier Wederstraße durch die Sanierungsmaßnahmen eine durchschnittliche Bodenwerterhöhung von 12 € pro Quadratmeter. Grundstückseigentümer Manfred Hebbel soll pro Quadratmeter 16,60 € zahlen und sich insgesamt mit 7.300 € beteiligen. In der Nachbarschaft seines Mietshauses waren bis Mitte 2010 32 Grundstücke hergerichtet. Das Bezirksamt hatte Bescheide in Höhe von 1,1 Mio. € verschickt und bereits 222.716 € von Eigentümern erhalten.
Jetzt bleibt abzuwarten, wie das Berliner Verwaltungsgericht auf den Eilantrag reagiert. Die IVV wird aktuell berichten.