„Am besten das ganze Haus ready machen“
Die Situation würde sich langfristig entspannen, wenn die Weichen für das Wohnen im Alter bereits beim Neubau gestellt werden. In diesem Sinne haben Wissenschaftler der Universität Stuttgart einen Katalog für altengerechtes Wohnen als Drei-Stufenmodell für verschiedene Ansprüche konzipiert. Professor Thomas Jocher hat das sogenannte ready-Konzept zusammen mit einem Forscherteam der Universität Stuttgart entwickelt. Im Interview spricht er über Treppen als Trimmgeräte, Normentreue und Eigenverantwortung und die Schweiz als Vorbild.
Herr Jocher, selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden alt werden – wie sehen Sie die Chancen heute dafür?
Altwerden will jeder. Aber keiner will alt sein und sich damit auseinandersetzen, dass das Altwerden auch gewisse Bedingungen erforderlich macht. Dass man das eigene Leben und vor allem auch das eigene Wohnen darauf abstimmen sollte. Es macht schon einen Unterschied, ob man als Kind, Jugendlicher, Erwachsener oder älterer Mensch in der Wohnung lebt.
Wie gut sind wir denn auf das Alter eingerichtet?
Altengerecht nicht mit barrierefrei verwechseln
Nicht optimal. Man soll aber altengerecht nicht zwingend mit barrierefrei verwechseln. Barrierefreiheit ist ein schönes Stück davon. Altengerecht heißt auch, dass es zum Beispiel in der Wohnung Raumzusammenhänge geben sollte zwischen Küche, Essplatz und Wohnraum. Denn künftig gehen verstärkt Paar-Haushalte gemeinsam und mit ganz anderen Ansprüchen ans Wohnen in Rente, die dann auch vieles gemeinsam gestalten wollen wie zum Beispiel das Kochen. Es gehört auch ein schöner großer Balkon dazu, weil sich der Lebensmittelpunkt immer mehr zurückzieht auf die eigene Wohnung, die man bestenfalls auch barrierefrei erreichen sollte. Was aber nicht zwingend ist. Denn um alt zu werden, ist genau das Gegenteil erforderlich. Man sollte möglichst viele Stufen steigen.
Ab 2030 braucht jeder Dritte hierzulande eine altengerechte Wohnung. Dann wird er oder sie 65 Jahre oder älter sein. Das bedeutet einen Mehrbedarf von bis zu drei Millionen altengerechter Wohnungen. Ist dieses Szenario Alarmismus oder alarmierende Tatsache?
Der Knackpunkt daran ist die Begrifflichkeit: Was ist altengerecht? Oder wer ist alt? Nach einer internationalen Definition ist jeder alt, der über 65 Jahre ist. Hochaltrig ist man mit 85. Viele Statistiken beginnen hier schon ab einem Alter von 60. Der Altersbegriff ist nicht hundertprozentig genau definiert. Wir haben in unserer Studie auch dazu geforscht: Was ist alt? Das verschiebt sich gerade.
Inwiefern?
Sozialwissenschaftler haben dazu interessante Beobachtungen gemacht. Mit 80 Jahren wollen die meisten Männer zum Beispiel noch Auto fahren. Das war früher mit 70 Jahren der Fall. Bei den Frauen ist der Lippenstift ein solcher Indikator. Früher sind schon die 70-Jährigen sparsamer damit umgegangen. Jetzt sind es die 80-Jährigen. Auch da verschiebt sich das gefühlte Alter um ungefähr zehn Jahre. Die Leute wollen länger jung sein. Und wenn man sich so fühlt und teils auch fitter ist, traut man sich auch mehr zu. Dann will man selbstständig in allen Bereichen im gewohnten sozialen Umfeld bestmöglich am Leben teilhaben und sein Leben im Alter nicht radikal ändern.
Prognose: etwa drei Millionen altengerechten Wohnungen werden benötigt
Wie gehen wir damit um?
Sicher. Nur will das keiner wahrhaben. Wer sich in jungen Jahren eine Wohnung kauft oder in eine Mietwohnung zieht, denkt nicht daran: Was passiert in 30 oder 40 Jahren mit mir? Wenn überhaupt, geht er davon aus: Dann kaufe oder miete ich mir eine andere Wohnung. Aber die andere Wohnung gibt es nicht. Seit zehn Jahren müssten wir im Grunde nur noch altengerechte Wohnungen bauen. Wobei ich mit altengerecht nicht meine, dass es eine rollstuhlgerechte Wohnung sein muss.
Sondern?
Es ist ja keineswegs sicher, ob man im Alter tatsächlich auf den Rollator oder Rollstuhl angewiesen ist. Das ist nur ein geringer Prozentsatz. Dann wäre vorher betriebener Aufwand für den Bau einer rollstuhlgerechten Wohnung völlig umsonst. Weil die junge Familie, die anschließend vielleicht dort einzieht, in dieser Lebensphase natürlich ganz andere Ansprüche ans Wohnen hat. Und: Selbst in einer DIN-gerechten Rollstuhl-Wohnung kann im Nachhinein ein Badumbau – beispielsweise nach einem Schlaganfall – erforderlich sein, weil der WC-Sitz eventuell auf der „falschen Seite“ eingebaut ist. Nach DIN-Norm muss er nur von einer Seite mit dem Rollstuhl anfahrbar sein. Zugespitzt: Ist der Schlaganfall dann nicht „normgerecht“, entstehen noch einmal hohe Umbaukosten. Dabei würde es genügen, erst einmal rechter wie linker Hand ausreichend Platz zu lassen.
Vorausschauend altengerecht planen führt uns zum „ready“-Konzept, das Sie mit einem Forscherteam entwickelt haben. Was sind die Grundzüge?
Schon beim Neubau soll die Wohnung so vorbereitet sein, dass sie im Bedarfsfall innerhalb weniger Tage umrüstbar ist. Genau angepasst an die tatsächlichen persönlichen Bedürfnisse im Alter, die durch gesetzliche Normen nie vollständig erfasst werden. Niemand kann schließlich vorhersagen, ob eine mögliche Einschränkung die körperliche oder geistige Mobilität betrifft. Auch die Intensität kann sehr verschieden sein. Dann ist beispielsweise der Duschsitz doch wieder nicht geeignet oder die Duschwanne. Von Medizinern haben wir uns sagen lassen, dass ein Oberschenkelhalsbruch 30.000 Euro Kosten verursacht. Besser wäre es, mit dem Geld Wohnung und Haus „ready“ zu bauen und solche Stürze damit eher zu vermeiden.
Schätzen Sie doch mal: Inwieweit wird das „ready-Konzept“ genutzt in den Neubauwohnungen, die gerade entstehen?
Auf jeden Fall noch zu wenig. Da gibt es natürlich Kostengrenzen einerseits und andererseits die Gesetzeslage. Die heißt barrierefreies Bauen. Der Bauunternehmer baut lieber einen bestimmten Anteil rollstuhlgerechter Wohnungen und hat damit dem Gesetz Genüge getan, als wenn er das ganze Haus ready machen würde. Was sinnvoller und etwas mehr als das vom Gesetz Geforderte wäre. Da ist unser Problem in Deutschland.
Es ist keineswegs sicher, dass man im Alter auf Rollator oder Rollstuhl angewiesen ist.
Wie sieht es in anderen Ländern mit dem altengerechten Wohnen aus?
Was den Lift angeht, der immer das größte Kostenvolumen einnimmt: In der Schweiz tut es notfalls auch ein kleinerer Lift, wenn es anders gar nicht möglich ist. Aber wir in Deutschland sind da eisern: Der Lift muss genau der DIN-Norm entsprechen. In anderen Ländern orientiert man sich hier lieber in die Breite der Forderung, während man in Deutschland eher in die Spitze geht. Lieber fünf Prozent wirklich absolut rollstuhlgerecht, als 90 Prozent einigermaßen barrierefrei. Unsere Überlegung lautet: Wir wollen Wohnungen, in denen ein Rollstuhlfahrer zu Besuch sein könnte. Dabei ist es nicht nötig, dass er bis in die letzte Abstellkammer rollen kann. In der Schweiz reicht es, wenn er zumindest barrierefrei durch die Wohnungstür an den Esstisch und ins Bad gelangt. Mehr danach planen, was vernünftig ist, darum geht es.
Das heißt, mehr gesunder Menschenverstand und weniger Perfektionismus bei der Planung?
Ich spreche da eher von Gesetzes- und Normentreue – und Eigenverantwortung. Und vergleiche das gern mit dem Airbag. Der ist nicht gesetzlich vorgeschrieben. Trotzdem will ihn jeder im Auto haben, aber möglichst nicht nutzen. So ähnlich ist es auch mit unserem Konzept für vorbereitetes, altengerechtes Wohnen. Es ist einfach da – und hat einen Wert an sich, auch wenn der Airbag gar nicht ausgelöst wird. Das ist die Idee hinter „ready“. Es soll eine freiwillige Maßnahme sein, die aber auch dem Kostenbewusstsein Rechnung trägt. Deshalb haben wir diese drei Stufen für unterschiedliche Ansprüche und finanzielle Möglichkeiten entwickelt. In einem Haus mit drei Ebenen würde es demnach schon genügen, im Treppenhaus ausreichend Platz für die Nachrüstung mit einem Aufzug oder Treppenlift zu lassen. Das ist mit vielen scheinbaren Kleinigkeiten so, die auf den ersten Blick nichts mit altengerecht und noch weniger mit barrierefrei zu tun haben.
Was würden Sie da nennen?
Der ellektrische Sonnenschutz ist so ein Beispiel. In gesunden Jahren scheinbar Komfortsache. Anders mit einer Lähmung links oder rechts. Den mechanischen Sonnenschutz kann man dann oft nicht mehr richtig bedienen. Insofern wäre es gut, wenn am Fenster bereits ein Stromanschluss gelegt wäre. Die Fernbedienung über Funk ist heutzutage ja kein Problem mehr. Zur altengerechten Wohnung gehört aber genauso das Sicherheitsbedürfnis, das ältere Leute haben.
In dieser Hinsicht stößt Barrierefreiheit erfahrungsgemäß oft an ihre Grenzen beziehungsweise kollidiert mit den Sicherheitsbedürfnissen der Älteren.
Das ist häufig ein Problem. Denn einerseits sind die alten- und rollstuhlgerechten Wohnungen oft im Erdgeschoss untergebracht. Jedenfalls ist es in vielen Länderbauordnungen so festgelegt. Man spart sich dadurch den Lift. Aber gerade das ist – aus Angst vor einem Einbruch – der geringste Wunsch der älteren Leute. Sie wünschen sich eine geschützte Wohnung in einer etwas höheren Lage, um sich sicher zu fühlen.
Damit wären wir wieder beim Lift und Treppenhaus.
Eine Wohnung im Bestand altengerecht zu sanieren ist immens teuer und aufwendig. Wir könnten uns diesen Aufwand sparen, wenn wir schon gleich zu Beginn daran denken würden, dass man eine Wohnung in der Regel bis zum hohen Alter – im Idealfall bis zum Lebensende – benutzen möchte. In der gewohnten Umgebung zu bleiben ist ein Wunsch der meisten Leute, Aber dafür muss man was tun. Das müsste man vorbereiten. Man müsste „ready“ machen.

Professor Dr.-Ing. Thomas Jocher ist Mitglied des Instituts für Wohnen und Entwerfen an der Universität Stuttgart, dass er bis zu seiner Emeritierung 2018 geleitet hat.Jetzt lehrt und forscht er an der TU Darmstadt, der Hochschule München und der Tongji Universität in Shanghai. Bild: Universität Stuttgart
„ready“ - Stufenmodell für unterschiedliche Ansprüche
Carla Fritz


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