Das ganzheitliche Integrationskonzept von Weißenfels
Weißenfels – dieser Name sagt vielen wahrscheinlich gar nichts, BMW und Porsche hingegen vermutlich schon. „Alles vor unserer Haustür in der Ballungsregion Leipzig-Halle“, sagt Robby Risch, Oberbürgermeister der Saalestadt in Sachsen-Anhalt. „Dazu DHL, die Messe und die Industrie, die sich historisch hier angesiedelt hat. Auch die Chemieregion mit dem Zentrum Schkopau liegt in Reichweite.“
Rund 7.000 Pendler aus der Region sind täglich dorthin unterwegs – darunter zahlreiche Weißenfelser, Alt-, aber auch Neubürger, die ihren Wohnsitz nicht zuletzt wegen der kurzen Pendelwege hierher verlegt haben. Aber es könnten noch mehr sein. Risch „ärgert es, dass nicht wenige, die im Sanitätseinsatzkommando der Bundeswehr am Standort Weißenfels Dienst tun, noch mit Leipziger Kennzeichen hierher fahren“. In dieser Hinsicht müsse man noch mehr an den weichen Standortfaktoren arbeiten und beim Wohnraum deutlich attraktiver werden. Jüngst hat die Stadt über ihre Wohnungsgesellschaft ein neues Wohngebiet erschlossen und rund 35 Einfamilienhausgrundstücke auf den Markt gebracht. „Etwa 75 Prozent davon waren tatsächlich Zuzug von außerhalb“, so Risch.
Handfeste Hoffnungen
Für das Stadtoberhaupt mehr als nur ein Hoffnungsschimmer. Vielmehr einer von gleich mehreren handfesten Gründen, weshalb Risch die Einwohnerentwicklung der Stadt nicht in dem Maße beunruhigt, wie es Prognosen zum Einwohnerschwund nahelegen könnten: minus 13 Prozent bis 2030. Dabei musste Weißenfels in den 1990er-Jahren schon einen Rückgang um rund 18 Prozent verkraften. Vor allem junge, gut ausgebildete Frauen zogen Richtung Westen der Arbeit nach, nachdem alteingesessene Branchen wie Schuhindustrie und auch die Fleischindustrie dichtmachten. Dass die Stadt heute dennoch rund 40.800 Einwohner zählt und damit fast genauso viele wie 1990, hat sie der Eingemeindung von einem Dutzend Ortschaften zu verdanken und der Zuwanderung aus Osteuropa.
Die Zuwanderer aus Polen, Rumänien und Bulgarien sind vor allem in der Fleisch- und Lebensmittelindustrie beschäftigt – viele beim Fleischproduzenten Tönnies. Ein Name, der neben anderen aus der Branche in den letzten Jahren wegen miserabler Arbeits- und Wohnbedingungen seiner Werkvertragsarbeiter stark in der öffentlichen Kritik stand. Mit dem sich aus Sicht des Oberbürgermeisters aber mittlerweile auch ein Stück Hoffnung verbindet. Mindestens 80 Prozent der Beschäftigten sollen mit den Familien ihren ständigen Wohnsitz in Weißenfels haben, habe man sich bei Tönnies auf die Fahnen geschrieben.
Bessere Wohnungen für die Arbeiter im Schlachtbetrieb
Hintergrund für den Sinneswandel bildet das gesetzliche Aus für Werkverträge in der Fleischbranche 2021. In der Konsequenz müssen dauerhafte Arbeitsverhältnisse daraus werden. Dem habe sich der Unternehmer gestellt. Inzwischen seien in dem Schlachtbetrieb rund 1.500 Beschäftigte fest angestellt, so Risch. Zu den festen Arbeitsverträgen seien auch neue Mietverträge gekommen, wenn die bisherigen Wohnverhältnisse nicht dem Standard entsprachen. Auch da müsse man differenzieren. „Es gab Werkvertragsunternehmen, die ausschließlich sanierten Wohnraum angemietet haben und andere, die sich nur am Preis orientierten.“ Letztere Mietverhältnisse wurden konsequent beendet – häufig im Ergebnis unternehmenseigener Kontrollen, wie Risch beobachtet hat.
Anstelle von Werkvertragsunternehmen sei der Fleischfabrikant nunmehr in die Mietverhältnisse eingestiegen und habe als privater Investor auch Wohnungen in der Stadt gekauft, die ihm angeboten wurden. Risch geht davon aus, dass hier dann auch gemischtes Wohnen stattfindet, Deutsche, Rumänen, Bulgaren und Polen unter einem Dach. Mittlerweile gebe es seitens des Schlachtbetriebs gewisse Überlegungen auch im Hinblick auf eigene Werkswohnungen. Inzwischen habe das Unternehmen auch eine eigene Integrationsbeauftragte. Was der Oberbürgermeister in diesem Zusammenhang außerdem schätzt, ist der schnelle Draht von Chef zu Chef. Entscheidungen werden auf kurzem Weg getroffen.
Nicht nur durch die Saale geteilt
Heimisch werden in einem fremden Land, in einer fremden Stadt, mit einer fremden Sprache – das gelingt erfahrungsgemäß tatsächlich erst mit Arbeit, Familie und Wohnen. Von den Weißenfelsern anfänglich kaum wahrgenommen, blieben die Zugewanderten allerdings größtenteils auch nach der Arbeit unter sich – in der Neustadt, einem Viertel in der nördlichen Stadthälfte, das zusammen mit der Schuhindustrie in der Gründerzeit entstand. „Arbeiterwohnungen von kleinem Zuschnitt und auf einem Standard, der heute relativ wenig nachgefragt wird“, informiert Risch. Lange sei der Stadtteil seitens Politik und Verwaltung mehr oder weniger sich selbst überlassen gewesen: „Motto: Probleme, die ich nicht kenne, gibt es nicht.“
Bis vor Kurzem gab es hier auch drei Flüchtlingsunterkünfte des Landkreises. Die Hälfte der Bewohner hat einen Migrationshintergrund, im gesamten Stadtgebiet sind es rund 15 Prozent. Wer es sich leisten kann, zieht weg aus dem industriell geprägten Norden der Saalestadt in den landschaftlich reizvollen Süden mit Grün- und Wasserblick. Zugleich eine Tourismusregion mit wachsendem Zulauf. Dabei gilt auch: je südlicher, desto höher der Anteil älterer Bewohner. Weißenfels ist folglich doppelt zweigeteilt: naturgegeben durch die Saale, aber auch beim Wohnen mit einem Süd-Nord-Gefälle.
Investitionen in Schulen und medizinisches Zentrum
„Die Abwanderung aus der Neustadt ist messbar“, sagt Robby Risch. Der Leerstand liegt bei 30 Prozent. „Diese Entwicklung müssen wir stoppen, indem wir der Neustadt eine Perspektive geben.“ Mit 9.000 Einwohnern ist es immer noch der größte Stadtteil von Weißenfels. Hier wohnen viele kinderreiche Familien. Auch darauf setzt Risch Hoffnungen – „wenn Kinder unterschiedlicher geografischer und sozialer Herkunft gemeinsam im Kindergarten spielen und sich dann in der Grundschule finden, was es vorher so nicht gab“. Das könnten die künftigen Fachkräfte in der Region werden.
Gerade wurde die Grundschule in der Neustadt für sechs Millionen Euro mit Eigenmitteln und mit Fördermitteln aus dem bundesweiten STARK-III-Programm grundsaniert. In der Realschule laufen die Sanierungsarbeiten – bei laufendem Schulbetrieb – zurzeit noch. Hier investiert der Landkreis.
Inmitten der Neustadt gibt es inzwischen auch ein medizinisches Zentrum für ambulantes Operieren, mit Fachärzten, Physiotherapeuten und Apotheke. Ein Arzt, der hier auch als Unternehmer aktiv war, hat das ehemalige AOK-Gebäude für den neuen Verwendungszweck umfunktioniert. „Wir setzen zunächst auf diese und weitere Leuchtturmprojekte“, erklärt Risch.
Das betrifft nicht zuletzt die Wiederbelebung einer historischen Immobilie mit Bürgerbeteiligung. Über mehrere Monate haben freiwillige Helfer die verwahrlosten Räume von herausgerissenem Interieur freigeräumt, der Oberbürgermeister war mit dabei. Bei Tagen der offenen Tür wurden Ideen für die Nutzung des alten Kinos Gloria gesammelt. Ergebnis: Angestrebt wird eine multifunktionale Nutzung, etwa als kleines Kino mit Gastronomie, eventuell auch mit Theater oder einem Jugendtreff. Wiederaufgebaut wurde – nach Brandstiftung – die abgebrannte Ballsportarena. Hier engagierte sich ein Tischlermeister zusammen mit Kindern und Jugendlichen. Im Fußgängertunnel, zugleich das Tor zur Neustadt, haben sich Jugendliche – darunter viele mit Migrationshintergrund – mit Grafitis verewigt – mit Zustimmung der Stadt und begleitet von einem Künstler aus der Street-Art-Szene, gesponsert von der Deutschen Bahn und der Apotheke in der Neustadt.
„Es gibt ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl“, so Risch, „und inzwischen auch viele Partner der Integration in der Neustadt.“ Das ist beispielsweise die Caritas, die mit einer gemeinnützigen Gesellschaft 2.500 Kinder in Kindergärten betreut und muttersprachliche Gottesdienste der Katholischen Kirche anbietet.
Corona habe in den letzten beiden Jahren allerdings viele Projekte und Aktivitäten in der Stadt als Ganzes ausgebremst wie etwa das gemeinsame Fastenbrechen und das alljährliche Sportfest, das als Stadtfest gefeiert wird. „Derzeit sind wir dabei, unsere Schwimmhalle in Weißenfels West, die auch von den Neustädtern genutzt wird, zu sanieren“, so Risch. Das Freibad in Langendorf war schon in den Jahren 2018/2019 dran und wurde im Sommer 2019 wiedereröffnet.
Die Stadt hat zudem eine Immobilie mit Sporthalle und schönem Innenhof erworben, die sich der Oberbürgermeister als „kleines hippes Stadtteilzentrum“ vorstellen kann. „Kein Kreuzberg, aber durchaus mit gewissem Charme. Von dem die Neustädter sagen: Das ist unser Haus. Und der Rest der Stadt: Da müssen wir hin.“
Bauen und Wohnen mit Konzept und Qualität
Die Investitionen im öffentlichen Raum sind damit faktisch ein Vorgeschmack darauf, was beim Wohnen noch kommen soll. „Im Moment stehen wir tatsächlich wieder vor einem Umbruch“, so Risch. Der Leerstand könne dabei eine große Chance sein im Zusammenhang mit dem Stadtteilkonzept, das in diesem Jahr endlich fertig werden soll. Dann wolle man in die Neustadt gehen, „sich Quartier für Quartier vornehmen und schauen, wie hier mit Fördermitteln vernünftiger Wohnraum geschaffen werden kann“.
Die Städtische und zwei Genossenschaften investieren
Nicht unmittelbar an den Brennpunkten, sondern mehr am Rand der Neustadt sind die beiden Wohnungsgenossenschaften von Weißenfels bereits baulich zugange. Die Mehrfamilienhäuser „Am Stern“ stehen schon. Für ein Projekt zum generationenübergreifenden Wohnen wurde jüngst eine alte Schuhfabrik abgerissen. Auch das kommunale Wohnungsunternehmen mit 3.000 Wohnungen im gesamten Stadtgebiet kann jetzt – nachdem der Altschuldenberg zum größeren Teil abgetragen wurde – wieder in Qualität investieren. „Inzwischen geht keine Wohnung ohne Komplettsanierung auf den Markt.“
Wohnen und Arbeit als Weg zur Integration, der „Weißenfelser Weg“ eben, so hat es die Stadt programmatisch formuliert. Dabei ist sie auf die Kooperationsbereitschaft insbesondere der Unternehmen, die sich hier neu angesiedelt haben, angewiesen. Nicht jeder lässt sich allerdings in die Karten gucken. Direkte Ansprechpartner gibt es selbst für einen OB keineswegs überall.
Nicht zuletzt hat es die Stadt mit unterschiedlichen Gebäude- und Eigentümerstrukturen wie auch mit einer Vielzahl privater Kleinvermieter und einer wachsenden Zahl auch ausländischer Immobilienbesitzer zu tun. Auch da ist es nicht immer einfach herauszufinden: Wer ist wo zu verorten? Hier macht sich Risch zufolge der Personalmangel bemerkbar: „Wir sind eine Kommune wie viele andere auch, das heißt im Wesentlichen: finanzschwach. Aber auch der Datenschutz grätscht hier oft rein.“
Hilfe, Klartext und langer Atem
Von der geplanten Clearingstelle, die noch in der ersten Jahreshälfte 2022 ihre Arbeit aufnehmen und sehr eng mit dem Burgenlandkreis zusammenarbeiten soll, verspricht man sich in Weißenfels deshalb mehr Transparenz wie auch Konsequenz in Bezug auf Arbeiten und Wohnen. Sie soll zum ersten Anlaufpunkt und Willkommen für Arbeitsmigranten werden. Das heißt auch: Keine Massenanmeldung mehr durch Subunternehmen, sondern jeder erledigt die notwendigen Formalitäten vor Ort selbst. Dabei werden Aufenthaltsverhältnisse wie auch die Familienkonstellation geklärt: Wo und unter welchen Umständen wohnt der Betreffende? Kommt er allein oder bringt er Familie mit? Hat auch die Frau einen Arbeitsplatz? „Es findet also nicht einfach nur eine Datenerfassung statt, sondern auch Beratung einschließlich Aufklärung über Rechte und Pflichten.“ Das heißt: Brauchen die Kinder einen Kitaplatz? Hat die Familie eine Wohnung oder braucht sie Hilfe bei der Wohnungssuche? Wie sind die Wohnverhältnisse? Wohnt der Betreffende allein oder in einer WG? Überbelegung führe bekanntlich oft zu Lärm- und Vermüllung. Gleichzeitig wolle man auf diese Weise Schwarzarbeit oder Scheinbeschäftigung einen Riegel vorschieben und kriminelle Praktiken eingewanderter Clans aus einem anderen Kulturkreis auch am Wohnungsmarkt von vornherein unterbinden.
Einige Wochen später soll auch noch einmal nachgehakt werden: Wie hat es geklappt – mit Wohnung, Arbeit, Schulanmeldung? Braucht die Familie gegebenenfalls Hilfe? Das übernimmt ein Sozialarbeiter des Landkreises, der die Familien zu Hause aufsucht.
Daneben läuft die normale Quartiersarbeit im Neustadtbüro, das sich in einer ehemaligen Sparkassenfiliale einquartiert hat. Dort kann jeder hinkommen und sich beraten lassen und konkrete Hilfe holen. „Wir machen keinen Unterschied zwischen Flüchtlingen, Arbeitsmigranten und Alteingesessenen.“
Integration als Langstrecke
Zehn Jahre mindestens veranschlagt Robby Risch für das, was sich die Stadt neu vorgenommen hat. Deshalb dürfe man nicht in Wahlperioden denken. „Da müsste ich sagen: Nach mir die Sintflut.“ Denn nach über 13 Jahren als Oberbürgermeister kandidiert der 60-Jährige bei der Wahl in diesem Jahr nicht mehr für dieses Amt. Worauf ein künftiger Nachfolger sich dann stützen kann: 2021 gab es mehr Zuzüge nach Weißenfels als Wegzüge.
Carla Fritz
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