Modell gegen Landflucht, Leerstand und Gentrifizierung

Gemeinschaftlich bauen, leben und wohnen

Stillgelegte Kindergärten oder Krankenhäuser fristen auf dem Land meist ein kümmerliches Dasein. Manchmal werden sie von Enthusiasten wachgeküsst, die Freiräume, bezahlbare Mieten und viel Grün wollen. Sie sanieren gemeinsam, um die entstandenen Räume und Freiflächen selbst zu bewohnen. Kann die Wohnungswirtschaft von solchen Modellen profitieren?

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Mehrere Familien haben sich zu einer Genossenschaft zusammengeschlossen und werden die leer stehende Poliklinik in Regis-Breitingen sanieren und bewohnen. Bild: Frank Urbansky
Mehrere Familien haben sich zu einer Genossenschaft zusammengeschlossen und werden die leer stehende Poliklinik in Regis-Breitingen sanieren und bewohnen. Bild: Frank Urbansky

Landflucht auf der einen, überfüllte Städte auf der anderen Seite. Dieses triste Bild wird gern von der demografischen Entwicklung hierzulande gezeichnet. Und tatsächlich lässt sich die Tendenz nicht leugnen: Im Jahr 2020 lebten etwa 77,5 Prozent der Deutschen in urbanen Zentren. Laut Prognosen könnte diese Zahl bis 2050 auf 84,3 Prozent steigen. Doch es gibt auch einen Gegentrend: Die steigenden Mietpreise in deutschen Großstädten belasten mittlerweile die finanzielle Leistungsfähigkeit vieler Menschen erheblich.

Das ifo-Institut aus München hat zusammen mit dem Immobilienportal immowelt ermittelt, dass 13 Prozent der Befragten aus Großstädten mit über 500.000 Einwohnern in den nächsten zwölf Monaten einen Umzug aus der Stadt planen. Auch der Immobilienfinanzierer Interhyp verzeichnet einen Trend zur „Stadtflucht“ oder „Suburbanisierung“. Im Jahr 2016 wollten noch 63 Prozent der Befragten ein Haus in Städten mit über 500.000 Einwohnern kaufen, während es im ersten Halbjahr 2020 nur noch 57 Prozent waren.

Ursachen gibt es viele. Zwei davon, Platzmangel und sehr hohe Mieten, könnten hier für eine Umkehrung sorgen. Und die gibt es schon im Kleinen – etwa in gemeinschaftlichen Wohnformen: als Genossenschaft, Verein oder GmbH. Mal wird die Immobilie gekauft, im Erbbaurecht übernommen oder es wird ein Generalmietvertrag vereinbart.

Regis-Breitingen: Wohnen im Kindergarten und einer Villa

Ein Beispiel bietet die GrundGenug eG, die in Regis-Breitingen, Schillerstraße 1, einen ehemaligen Kindergarten sowie eine dazugehörige Villa aus dem Jahr 1925 für ein Mehrgenerationenprojekt umbaut. Die Initiatoren des Projekts kommen aus Leipzig, die seit Längerem nach einem geeigneten Wohnprojekt im Südraum der Messestadt suchten. Ab Mai 2022 erhielten sie Unterstützung von der „Dezentrale – Netz für gemeinschaftliches Wohnen in Sachsen“, eines im Auftrag des Sächsischen Ministeriums für Regionalentwicklung tätigen Netzwerkes, das das gemeinschaftliche Wohnen in den Landkreisen Sachsens unterstützt.

Die Dezentrale steht der Gruppe von der Konzeptentwicklung über den Erwerb der Immobilie in einem Konzeptverfahren bis zum Einzug beratend zur Seite. Die Gesamtkosten für den Gebäudekauf und die Kaufnebenkosten betrugen etwa 320.000 Euro, während die geplanten Sanierungskosten bisher bei rund 300.000 Euro liegen. Ein Großteil der Arbeit wird in Eigenleistung erbracht. Das Grundstück umfasst insgesamt 4.572 Quadratmeter, darunter 1.460 Quadratmeter Bauland und 3.112 Quadratmeter Gartenland. Das Gebäude selbst hat eine Fläche von 570 Quadratmetern.

Die Planung für das Projekt wurde von Ellen Kafka in Zusammenarbeit mit Georg Stäblein von BAU-BLOCK ARCHITEKTEN durchgeführt. Beim Umbau des Gebäudes wird viel vom Bestand erhalten und Materialien weiterverwendet. Vorgesehen sind auch eine Photovoltaikanlage und die Entsiegelung und Begrünung der Asphaltfläche vor dem Gebäude. Ökologische Baustoffe werden verwendet, wenn finanziell möglich.

Die ersten Einzüge im ehemaligen Kindergarten sind für November 2023 geplant, danach beginnt der Umbau der Villa zu abgeschlossenen Wohneinheiten. Aktuell besteht die Gemeinschaft aus sieben Erwachsenen und fünf Kindern. Die angestrebte Kaltmiete beträgt etwa 6,50 Euro pro Quadratmeter. Das Wohnprojekt besteht aus fünf Wohnungen mit Größen von 54 bis 98 Quadratmetern sowie verschiedenen Gemeinschaftsflächen, darunter ein Gemeinschaftsraum im Haus (ca. 50 m²) und ein großer Garten mit Außenküche und kleiner Sauna.

Weitere Informationen:www.grundgenug-eg.de

Regis-Breitingen: viel Raum in Alter Poliklinik

Ebenfalls in Regis-Breitingen, das durch den S-Bahn-Anschluss zum Speckgürtel von Leipzig gerechnet werden kann, obwohl es 30 Kilometer vor den Toren der Stadt liegt, gibt es ein weiteres genossenschaftliches Projekt: die Alte Poliklinik. Auch hier steht die Dezentrale den Käufern und baldigen Genossenschaftern beratend zur Seite.

Das Grundstück hat eine Größe von 5.827 Quadratmetern, das Gebäude selbst umfasst etwa 2.000 Quadratmeter. Die Planung wurde vom Architekturbüro SchwarzFORMat durchgeführt, mit Nachhaltigkeitsaspekten wie Erhalt der Grundrissstruktur, Entsiegelung und dem Anlegen von naturnahen Bereichen auf dem Gelände.

Die Gesamtkosten für den Gebäudekauf und die Kaufnebenkosten betrugen etwa 200.000 Euro und bisher wurden etwa 80.000 Euro für Plan und Umbau aufgewendet. Weitere Sanierungskosten in Höhe von rund 30.000 Euro sind geplant, wobei sehr viele Eigenleistungen und eigene Mittel für den individuellen Ausbau der Wohnungen eingebracht werden. Die Finanzierung erfolgt ohne Bankkredite.

Die verschiedenen Projektphasen erstrecken sich von 2018 bis zur Umnutzungsgenehmigung im April 2022. Die Gemeinschaft besteht aktuell aus zwölf Erwachsenen und sieben Kindern. Insgesamt können bis zu 20 Erwachsene später hier wohnen. Es gibt sieben Wohnungen und Pläne für etwa drei weitere Wohnungen, Atelierräume im Erdgeschoss und Obergeschoss sowie nutzbare Räume im Keller und Nebengebäude.

Weitere Informationen:www.alte-poliklinik-regis-breitingen.de

Leipzig: Wohnungen, Werkstätten, Gemeinschaftsflächen

Gemeinschaftliches und selbstverwaltetes Wohnen gibt es seit der Wende in den ostdeutschen Großstädten, so auch in Leipzig. In der Georg-Schwarz-Straße 11 und der Merseburger Straße 102/104 ist ein Wohn- und Arbeitsprojekt in (teil-)sanierten Gebäuden aus dem Jahr 1911 entstanden. Die Akteure haben 2011 eine GmbH gegründet. Angestrebt wird ein Beitritt in den bundesweiten Verband des „Mietshäuser Syndikats“, dem bereits vier weitere Wohnprojekte in der unmittelbaren Nachbarschaft angehören.

Die Initiatoren, acht Personen, gehören dem Verein kunZstoffe e. V. an. Das Grundstück umfasst 2.030 Quadratmeter, die Gebäudefläche besteht aus drei Wohn- und Geschäftshäusern sowie einem Hinterhaus und einem ehemaligen Kino. Die Sanierung wurde und wird schrittweise ebenfalls vom Architekturbüro SchwarzFORMat (Gestewitz) durchgeführt – mit geplanten energetischen Maßnahmen wie Photovoltaik und Wärmepumpen.

Die Gesamtkosten für den Kauf und die Sanierung betragen über eine Million Euro. Es wird auch sehr viel Eigenleistung beim Bau und der Verwaltung erbracht. Das Projekt durchlief verschiedene Phasen, von der Gründung der GmbH 2011, dem Erwerb der ersten vier Häuser bei einer Zwangsversteigerung im Jahr darauf über den Kauf des Kinos 2015 bis zu den aktuellen Planungen, die den Umbau des Kinos zu Wohn- und Arbeitsräumen und eine zweite Sanierungswelle in einem der Wohnhäuser umfassen.

Derzeit wohnen etwa 30 Erwachsene und zehn Kinder in dem Objekt. Es gibt Gewerbemieterinnen, darunter eine Wohnungsvermittlung für Geflüchtete, ein Reparaturcafé, ein Tattoostudio, ein Zimmereikollektiv und mehrere Ateliers. Die vermieteten Flächen betragen etwa 2.000 Quadratmeter, einschließlich Wohnflächen und Gewerbe-/Gemeinschaftsflächen. Es gibt Gemeinschaftsflächen wie einen Multifunktionsraum, eine Werkstatt und ein Gästezimmer.

Weitere Informationen:www.central-ls-w33.de

In der Nachbarschaft dieses Objektes findet sich ein weiteres Beispiel: das einst leer stehende und ruinöse Wohn- und Geschäftshaus in der Georg-Schwarz-Straße 7, durch ein gemeinnütziges Projekt wiederbelebt und sanft saniert. Das passierte zu einer Zeit, als die Gegend noch nicht attraktiv für neue Bewohner und Investoren war. Ein Verein, der dem Ökolöwen – Umweltbund Leipzig e. V. nahesteht, initiierte das Projekt und revitalisierte das Gebäude aus dem Jahr 1905. Die kommunale Wohnungsgesellschaft LWB ist nun Erbbaurechtsgeberin, weiß die Grundstücke in guten Händen – ohne dafür investieren zu müssen.

Das Grundstück umfasst 350 Quadratmeter, die Gesamtgebäudefläche beträgt 513 Quadratmeter. Die Sanierung erfolgte schrittweise und nutzte weitgehend originale und wiederverwendete Materialien wie Kastenfenster. Neue Materialien kamen nur dort zum Einsatz, wo es notwendig war, wie etwa bei der Dreifachverglasung der Fenster an der Hoffassade. Die Gesamtkosten für die Sanierung betrugen 150.000 Euro (290 €/m²), wobei wiederum sehr viel unbezahlte Eigenleistung erbracht wurde.

Das Projekt durchlief verschiedene Phasen, von der Projektidee 2008 über die Vereinsgründung 2009 bis zum Erbbaurechtsvertrag 2009. In den Jahren 2010 bis 2019 wurden schrittweise Sanierungs- und Umbaumaßnahmen durchgeführt. Zukünftige Pläne umfassen Dachdeckung, Dachdämmung, Photovoltaik, Heizungseinbau und Treppenhaus-Sanierung.

Das Gebäude wird überwiegend von der Materialsammlung „krimZkrams“ und 16 sogenannten Manufakturisten genutzt, die verschiedene handwerkliche und künstlerische Aktivitäten betreiben. Es stehen 15 Räume für Workshops und Ateliers sowie zwei Wohnungen zur Verfügung. Das Besondere an diesem Projekt ist, dass es weniger ein Wohnprojekt ist, sondern vor allem günstige Workshop-Räume, Lagerflächen und Werkstätten bzw. Ateliers bietet. Ein relativ hoher Anteil der Mieterinnen und Mieter sind Gewerbetreibende, hinzu kommen zwei Wohnungen für Vereinsmitglieder.

Weitere Informationen sind auf der Website des Projekts verfügbar:www.kunzstoffe.de

Stade: Wohnungsgenossenschaft macht es selbst

Doch wie könnte die Wohnungswirtschaft von gemeinschaftlichem Wohnen profitieren? Ein Beispiel findet sich in Stade. Hier wurde ein Gebäude in einem historischen Arbeiterquartier aus den 1920er-Jahren zu einem Wohnprojekt umgestaltet – von der Wohnstätte Stade eG, einer alteingesessenen Wohnungsgenossenschaft mit gut 2.500 Wohnungen im Bestand.

Dabei wurden 31 barrierefreie Wohnungen für Menschen mit Beeinträchtigungen und betreutes Wohnen für Senioren geschaffen. Ein spezifisches Projekt in der Dankersstraße 3 bietet barrierefreie Mietwohnungen mit Energiesparmaßnahmen wie einer Wärmepumpen-Heizung. Es gibt elf Wohnungen mit zwei oder drei Zimmern, Parkplätze, Fahrradabstellplätze und eine Gemeinschaftswohnung für verschiedene Aktivitäten. Gemeinschaftsräume wurden geschaffen. Die Projekte wurden in Zusammenarbeit mit den Bewohnern organisiert und so das Gemeinschaftsleben gefördert. Die Gebäude befinden sich nahe dem Stader Zentrum mit umfangreicher Nahversorgung.

Kooperation mit Initiativen für gemeinschaftliche Wohnprojekte

Wie lässt sich auf demografischen Wandel, auf Wegzug und Leerstand, auf Gentrifizierung und auf neue Rollenbilder adäquat reagieren? Betroffen von diesen gesellschaftlichen Veränderungen sind alle Kommunen und damit Wohnungsunternehmen, egal ob im ländlichen Raum oder im Einzugsgebiet der Metropolen.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fördert den Informationsaustausch zwischen privaten Initiativen für das gemeinschaftliche Wohnen und der gewerblichen Wohnungswirtschaft. Bei einer Auftaktveranstaltung im September 2022 wurden bereits Möglichkeiten aufgezeigt, wie Wohnungsunternehmen mit neuen Wohnformen attraktive Wohnangebote und Wohnumfelder schaffen können, die auch Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf einbeziehen. Im September 2023 wurden auf einer Exkursion mehrere Sanierungs- und Wohnprojekte vorgestellt, die von privaten, genossenschaftlich organisierten Initiativen getragen werden.

An der Vernetzung und dem Wissenstransfer sind beteiligt: Forum Gemeinschaftliches Wohnen e. V. (Bundesvereinigung), WIN für Gemeinschaftliches Wohnen, vdw Sachsen und die Dezentrale – Netz für gemeinschaftliches Wohnen in Sachsen.

Finanzierung

Die Finanzierung aller hier genannten Beispiele außer der Poliklinik und dem Projekt in Stade erfolgte durch Bankkredite, Direktkredite/Nachrangdarlehen und Mieteinnahmen sowie in deutlich kleinerem Umfang durch Spenden, Preisgelder und Fördermittel.

Frank Urbansky

Frank Urbansky
Journalist, Fachautor und Berater
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Artikel Gemeinschaftlich bauen, leben und wohnen
Seite 22 bis 24
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