„Wohnungsschlüssel passt auch für den Gemeinschaftsraum“
Der große Schriftzug an der gelben Hausfassade des markanten Rundbaus gleich hinter dem Nürnberger Hauptbahnhof, er fällt ins Auge: „anders WOHNEN“. „Von der Dachterrasse im fünften Stock können wir die Züge sehen“, sagt Fred Jantschke (85), Bewohner und Mitbegründer des genossenschaftlichen Wohnprojekts in der Südstadt. Senioren und Alleinerziehende haben hier ihr Zuhause. Beide Gruppen – die einen oft isoliert und mit viel Zeit, die anderen erheblich belastet durch Familie und Berufstätigkeit – können sich so unterstützen. Das ist, auf einen Nenner gebracht, das Konzept dahinter. Davon waren auch Marga und Fred Jantschke angetan, die zuvor schon ihr kleines Einfamilienhaus in der Stadt zugunsten einer Eigentumswohnung aufgegeben hatten und sich von Anfang an für das Gemeinschaftsprojekt engagierten.
Öfter auch mal „nein“ gesagt
„In dieser Kombination hat es das deutschlandweit bis dahin nicht gegeben. Da waren wir einmalig“, erklärt Fred Jantschke auch die besondere finanzielle Unterstützung von Bund und Freistaat für das Millionen-Projekt. „Sonst hätten wir das Haus gar nicht bauen können“, so der gelernte Versicherungskaufmann, der insbesondere die Finanzierung vorantrieb. Damit kannte er sich als Bayern-Vertriebschef für Finanzprodukte einer großen Versicherung aus und holte die Gründungsgruppe in den Planungsbesprechungen dann auch immer wieder mal auf den Boden der finanziellen Tatsachen zurück: „Ich habe öfter mal ‚nein‘ gesagt. Dafür haben wir das Geld nicht.“ Damit sei die Arbeitsteilung klar gewesen. „Der damalige Architekt kümmerte sich im Vorstand um den Bau und ich war der ‚Finanzminister‘“, versieht Jantschke seinen Rückblick mit bayrischem Humor.
Mit Diplomatie die Bank überzeugt
Finanziell war das Genossenschaftsprojekt eine Punktlandung: Kosten 6,4 Millionen Euro wie geplant. Das Schwierigste war aus Jantschkes Sicht, überzeugend mit den Banken zu verhandeln: „Sie mussten mir ja glauben, dass ich Gründungsmitglieder finde, die bereit sind für die Wohnungen 20.000 bis 30.000 als Eigenkapital einzuzahlen. Wir haben fast eine Million Euro von den Genossen eingesammelt.“ Dazu kamen gut vier Millionen Euro als Bankkredite plus eine Million Euro Förderung.
Seinem Verhandlungsgeschick war es dann auch zu verdanken, dass die Genossenschaft das Eckgrundstück am Bahnhof von der Stadt zu einem deutlich günstigeren Preis erwerben konnte als ursprünglich angeboten. Nicht gerade ein Filetgrundstück und damals mit keiner guten Presse in Bezug auf den verwilderten Parkplatz, der dort einmal war.
Glückliche Umstände für das Bauprojekt
Nach den Plänen der Stadt sollte über das Gelände eine Stadtautobahn führen – parallel zur Eisenbahnlinie nach Fürth. „Doch die wurde an anderer Stelle gebaut“, sagt Mandy Fuhrmann, die das Wohnprojekt als geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Genossenschaft seit zehn Jahren managt. „So standen plötzlich Flächen zur Verfügung, die vorher niemand auf dem Schirm hatte und wo auch die Stadt erst einmal nach Nutzern suchen musste.“ Einer von mehreren günstigen Umständen, die zum Gelingen des Projekts beitrugen, wie Jantschke findet. „Jenseits der Norm war die Stadt Nürnberg überaus hilfreich. In vielen Belangen hat uns auch die Wogeno München beraten“, für ihn das „Paradebeispiel“ für Wohnen in Gemeinschaft. „Sie hat inzwischen etwa 20 solcher Projekte initiiert.“
Versammelt am Wohnungsstammtisch
Rekordverdächtig die Zeit von der Genossenschaftsgründung bis zum Einzug – drei Jahre. In dieser Zeit war der Frührentner an fünf Tagen in der Woche für die Genossenschaft unterwegs. „Wir hatten sehr schnell 20 Interessenten zusammen, die sich regelmäßig zum Wohnungsstammtisch versammelt und mit ihren Vorschlägen an der Planung beteiligt haben“, so Jantschke.
Die Größe der geförderten Wohnungen war von der Stadt vorgegeben: 65 und 75 Quadratmeter für Alleinerziehende mit einem oder zwei Kindern sowie für Senioren 40 Quadratmeter als Ein-Zimmer-Apartment und bis 65 Quadratmeter für Paare.
Bei den Gemeinschaftsflächen hatten die Bewohner insoweit zwar freie Bahn. Aber es musste natürlich finanziell machbar sein. Von Ideen wie Schwimmbad oder Sauna verabschiedete man sich daher schnell. Anderes wie die beiden Gemeinschaftsräume mit Panoramablick beziehungsweise Dachterrasse wurden umgesetzt, Einbauküchen jeweils inklusive. „Sie sind für alle Bewohner jederzeit zugänglich. Das heißt, da passt der Wohnungsschlüssel auch für den Gemeinschaftraum“, sagt Mandy Fuhrmann.
Stark gemacht für Alleinerziehende
Für die Waschküche mit je fünf Waschmaschinen und Trockner im fünften Obergeschoss trägt sich jeder in eine Liste ein – und bezahlt einen Euro je Wasch- und Trockengang. Mit Münzautomaten je Maschine für rund 600 Euro in der Anschaffung wäre man nach Jantschkes Berechnungen deutlich teurer gekommen. Er hat sich auch dafür stark gemacht, dass für die Alleinerziehenden Küchen mit Kühlschrank und Herd eingebaut wurden. Alle anderen mieten die Genossenschaftswohnung ohne Kücheneinrichtung an.
Das Interesse war groß und die 43 barrierefreien Wohnungen schnell belegt: Ist das tatsächlich schon wieder gut 15 Jahre her? Der achtjährige Shajan, Fred Jantschke sieht ihn noch vor sich, wie er vor der Wohnungstür steht und nur ein Wort sagt: Mathe. „Er wusste, da konnte ich ihm weiterhelfen, eine andere Nachbarin in Deutsch.“ Die Sprache war die Hürde, „daher auch anfänglich die Schwierigkeiten in der Schule“. Inzwischen hat Shajan Abitur gemacht, studiert Jura und freut sich, wenn er im Haus auf Fred Jantschke trifft. Ein Jahr lang hat auch Erstklässler Jannik bei Jantschkes geklingelt, jeden Morgen halb acht, manchmal auch früher. Dann war noch Zeit zum Reden, bevor er sich in Begleitung von Marga Jantschke auf den Schulweg machte.
Ideal und Wirklichkeit
Diese Art von Unterstützung habe im Haus schnell funktioniert, so Fred Jantschke. „Die Mütter wussten ja: Sie müssen nur sagen, wenn sie Hilfe brauchen.“ – Und umgekehrt? Da blieb das angestrebte Ideal fürs Erste doch ein Stück weit hinter der Wirklichkeit zurück. „Die Älteren lassen sich lieber von Älteren unterstützen.“ Nicht etwa, weil sie den Jungen das nicht zutrauten oder sie sich nicht verstünden. „Vielmehr, weil sie sehen: Die Alleinerziehenden – als ‚gelernte Einzelkämpfer‘ – haben genug zu tun mit Beruf, Haushalt und Kindern.“ Alle sind berufstätig, viele im Dienstleistungsbereich oder in der Produktion, nicht selten im Schichtbetrieb und teils mit längeren Fahrstrecken per Bahn bis nach Ingolstadt. „Die Alten haben Zeit zum Schnacken, die Jungen nicht“, bringt Jantschke es humorvoll auf den Punkt.
„Damals haben wir einen Bedarfsplan gemacht und wer konkret was leisten kann“, sagt Mandy Fuhrmann, die inzwischen ein ähnliches Projekt im brandenburgischen Uebigau angeschoben hat.
Berufe und Berufungen
Im Weiteren ergab sich vieles fast automatisch aus dem Zusammenleben und in gewisser Weise auch durch die Berufsgruppen, die im Haus unter den Senioren zu einem größeren Teil vertreten sind – unter anderem Lehrer, eine Kindergärtnerin und auch eine Ärztin.
Etwa 20 Prozent der Genossenschaftsmitglieder haben ihre Wurzeln außerhalb Deutschlands, in Äthiopien, Irak, Türkei und eine junge Mutter in der Ukraine – insgesamt zehn Nationalitäten unter einem Dach. Besonders augenscheinlich wird das bei den Kaffeetafeln in großer Runde auf der Dachterrasse. Dort werden neben deutschen auch türkische und französische Spezialitäten gereicht, zusammen mit Kaffee aus Äthiopien, den die Spenderin selbst geröstet und nach heimischem Rezept zubereitet hat.
Café, Bäckerei und Kindergarten im Erdgeschoss
Wahlweise kann man Kaffee auch im Erdgeschoss trinken, in dem kleinen Café, das eine türkische Familie dort zusammen mit einer Bäckerei betreibt. Leben ins Haus wie ins Wohnviertel bringt außerdem der Quartierskindergarten im Erdgeschoss, der auch den Kindern aus dem Wohnprojekt offensteht. Zum Kindergarten gehört der Innenhof. „Das ist der Spielplatz und den Sommer über immer ein Gewusel da unten“, sagt Jantschke. Kinderlärm war und ist hier kein Thema und Unterstützung in schulischen Dingen nach wie vor kein Problem. War es anfänglich Hilfe bei den Schularbeiten oder Nachhilfe in Deutsch oder Englisch, ist es heute häufig die Unterstützung bei den Prüfungsvorbereitungen.
Prüfungsstress und PC-Support
Die Jugendlichen, inzwischen teils auch schon in Ausbildung, revanchieren sich mit technischem Support bei der PC- und Druckertechnik der Senioren, rücken Möbel richtig, nehmen Einkäufe ab oder bringen auch mal ein Stück frischgebackenen Kuchen vorbei. So gesehen ist die Wirklichkeit dem Ideal über die Jahre und mit der nachwachsenden Generation tatsächlich ein Stück nähergekommen.
Und auch wenn die Pandemie zwischenzeitlich viele Aktivitäten ausgebremst hatte, manche der älteren Semester inzwischen gesundheitsbedingt kürzertreten und die Hausgemeinschaft in den letzten Jahren um mehrere Bewohner trauern musste, das genossenschaftliche Wohnprojekt hat nichts an Vitalität eingebüßt.
Es gibt bewährte Spielregeln des Zusammenlebens
Mit neuen Bewohnern, oft aus der neuen Generation 60plus, kommt Bewegung ins Haus. „Man macht endlich wieder etwas in Gesellschaft“, sagt Mandy Fuhrmann. Deshalb ist ihr auch der Infotreff so wichtig, der endlich wieder stattfindet. Neuerdings gibt es einen Filmnachmittag. Donnerstags trifft man sich auf gut Bayrisch gesagt zum „Karteln“ von Schafskopf bis Rommé, zum gemeinsamen Mittagessen oder „Suppentag“ nach Bedarf. „Die Gemeinschaft wächst wieder zusammen.“ Nicht ganz ohne Reibung. Denn was für die „Alteingesessenen“ normale Gepflogenheiten sind – wie zum Beispiel die Reinigung der Waschmaschinen nach Gebrauch –, war für manche der neu Zugezogenen nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit. Solche Dinge klären sich am besten auf kürzestem Weg mit Hilfe der unmittelbaren Flurnachbarn als Ansprechpartner, die die Neuen mit den Spielregeln des Zusammenlebens im Haus vertraut machen. Dieses „Rezept“ bewährt sich auch hier.
Begehrte Listenplätze für die Vergabe von Wohnungen
Wer in das Genossenschaftshaus einziehen will, muss sich de facto erst einmal anstellen. „Für Seniorenwohnungen führen wir eine Warteliste“, sagt Geschäftsführerin Mandy Fuhrmann. Und für Alleinerziehende gibt es eine Vorschlagsliste der Stadt, die den Bezug einer Sozialwohnung generell genehmigen muss. Dass der Bedarf und folglich auch der Andrang groß sind, ergibt sich schon aus der relativ großen Anzahl Alleinerziehender in der Stadt. Derzeit seien es etwa 12.000, verweist Mandy Fuhrmann auf eine aktuelle Statistik.
Auf wen die Wahl letztlich fällt, liegt auch hier bei der Genossenschaft. „Der Vorstand entscheidet nicht allein, sondern zusammen mit Bewohnern über die Vergabe der Wohnungen.“ Dieses unmittelbare Mitspracherecht der Genossenschaftsmitglieder findet Fuhrmann zufolge auch bei angehenden Wohnprojekten Interesse, die sich hier Anregungen zum Bauen und Wohnen in Gemeinschaft und unter sozialem Aspekt holen.
Bezahlbar wohnen
Neben den obligatorischen Genossenschaftsanteilen zahlt jedes Mitglied einmalig einen Betrag – abhängig von der Wohnungsgröße und vom Einkommen. „Bei einer freifinanzierten Genossenschaftswohnung sind das 400 Euro pro Quadratmeter, bei einer geförderten Wohnung je nach Einkommensstufe 150 oder 250 Euro je Quadratmeter“, erläutert Mandy Fuhrmann.
Auch die Miete staffelt sich nach Einkommen. Sie liegt aktuell zwischen acht und neun Euro kalt pro Quadratmeter. Und mittlerweile, müsse man bedenken, „sind wir hier in Nürnberg im Durchschnitt bei Neubau-Kaltmieten von 12 bis 15 Euro pro Quadratmeter“, vergleicht Fuhrmann.
Carla Fritz


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