Mehr Offenheit für Carsharing, Umweltbewusstsein und zugleich eine kritische Distanz gegenüber dem Individualverkehr nehmen in der Gesamtbevölkerung zu. In Berlin wurde ab September 2020 die Friedrichstraße vorübergehend auf 500 Metern zur Fußgängerzone mit Radweg umgebaut. Die Nobel-Shoppingmeile Königsallee in Düsseldorf soll für den Individualverkehr weitgehend gesperrt werden, in Hamburg ist der Jungfernstieg Ende 2020 zur autofreien Zone umgebaut worden. In Bremen soll ein Premium-Fahrradweg für fünf Millionen Euro entstehen, auch um die notleidende City und deren Einzelhandel zu retten – ein Großteil von rund vier Millionen Euro davon vom Bund beigesteuert. „Die Integration des Themas `gesundes Leben´ mit wenig Autos und möglichst viel E-Mobilität wird die Immobilienbranche in den kommenden Jahren massiv fordern“, sagt Thomas Beyerle, Managing Director der Catella Property Valuation GmbH, langjähriges Mitglied des Urban Land Institute (ULI) und Professor an der Hochschule Biberach HBC.
Langsam entstehen bundesweit neue Wohnquartiere unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit. Es gilt, urbane Infrastrukturen als sogenannte Healthy Places aufzubauen. Städte müssten, so Beyerle, zur „grünen Lunge“ werden, denn die „Generation Y“ und auch die Babyboomer-Jahrgänge wollten immer mehr Wohn- und Arbeitsumfelder, die einer gesundheitsorientierten Lebensweise entsprechen. Die Pandemie darf hier als Treiber herhalten.
Jeder Pkw wird statistisch nur eine Stunde pro Tag bewegt
Einen wichtigen Part beim Umbau der Städte bilden Carsharing-Angebote, die allmählich aus ihrem Nischendasein wachsen. Bei durchdachten Konzepten können Bauherren, Mieter und Eigentümer gleichermaßen profitieren, sind sich Architekten, Städteplaner und nicht zuletzt der Bundesverband Carsharing (BCS) einig. Deutschland mit Berlin als Carsharing-Hauptstadt gilt dabei als wichtiger Motor innovativer Wohn- und Mobilitätskonzepte.
Im Januar 2021 wurden laut BCS über 2,87 Millionen Carsharing-Nutzer bei deutschen Anbietern gezählt. „In innenstadtnahen Wohngebieten ersetzt ein Carsharing-Fahrzeug heute bis zu 20 private Pkw“, sagt Willi Loose vom Bundesverband Carsharing(BCS). Vor allem stationsbasiertes Carsharing befreie Städte in erheblichem Umfang von überflüssigen Autos.
Fakt ist wohl, dass die bis zu 45 Millionen Autos in Deutschland durchschnittlich nur eine Stunde täglich genutzt werden. Diese „Stehautos“ könnten ersetzt oder über Internet-Vermittlungsportale wie Getaround unter Privatpersonen „geteilt“ werden, meint auch Cordula Fay, Referatsleiterin Stadtentwicklung, Wohnungsbau beim GdW-Bundesverband in Berlin. Sie hat vielfältige Erfahrungen als Stadtteil- und Quartiermanagerin in der Berliner Wohnungswirtschaft und legt beim Thema einen deutlichen Fokus auf die jüngere Generation, „die schon heute selbstverständlich per App das Fahrrad, Taxi, ÖPNV und Autos je nach Bedarf kombiniert“. Wohnen und Mobilität mit einer integrativen Herangehensweise müsse aber mehr in die Köpfe der Unternehmen platziert werden, so Fay.
Für Wohnquartiere gibt es noch zu wenige „Leuchttürme“ bundesweit. Erste Pilotprojekte sind indes vielversprechend. Sowohl im Bestand als auch bei Neubauprojekten können laut Willi Loose Wohnungswirtschaft und Carsharing dabei voneinander profitieren. Denn die Unternehmen könnten so den Wohnwert steigern und Baukosten senken, Anbieter neue Zielgruppen erschließen. Häufig genug bleibt es am Ende eine Frage des Standortes, des politischen Wollens und entsprechender Mehrheiten.
„Good-Practice-Beispiele“ mit ganzheitlicher Umsetzung
Der alle zwei Jahre ausgelobte Deutsche Verkehrsplanungspreis der Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung (SRL) e.V. ging im Jahr 2018 an Darmstadt mit dem multimodal und nachhaltig gemanagten Quartier „Lincoln-Siedlung“. Ausgezeichnet wurden wohnungs- und quartierbezogene Konzepte, bei denen die Nutzung des privaten Pkw überflüssig gemacht oder minimiert wird durch Carsharing, Leihräder und Tickets für Bus und Bahn.
Die BVD New Living GmbH & Co. KG, eine Tochtergesellschaft der Bauverein AG, hatte zuvor die „Lincoln-Siedlung“ von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) erworben. Unter der Regie des Unternehmens wird Zug um Zug auf dem 244.000 qm großen Konversionsareal ein modernes urbanes Quartier mit innovativem Energie- und Mobilitätskonzept für rund 3.000 Menschen entstehen. Der Wohnungsanbieter schafft dabei im Rahmen seiner Philosophie des Klima- und Umweltschutzes sowie der Schaffung bezahlbaren Wohnraums (ca. 44 Prozent ist öffentlich geförderter Wohnraum) auch Mieter-Anreize zur Nutzung von Carsharing. Unter dem Namen „mein lincoln mobil“ stehen den Bewohnern beispielsweise drei Elektroautos bis zu vier Stunden pro Woche gratis zur Verfügung.
Prämiertes Mixed-use-Konzept in Darmstadt
Gisela Stete, Chefin der Darmstädter Steteplanung, hat das Quartierkonzept mit ihrem Team ausgearbeitet und begleitet. Die Verkehrsplanerin setzt auf einen Mix bei neuen Quartieren, in denen Wohnen, Arbeiten und Freizeit sinnvoll kombiniert werden. In der Planung sind beim Pilotprojekt in Darmstadt daher weniger Kfz-Stellplätze vorgesehen, als es in anderen Quartieren üblich ist. Die Parkplätze werden überwiegend zentral in Sammelgaragen gebündelt, die maximal 300 Meter von den Wohngebäuden entfernt und damit fußläufig gut zu erreichen sind. Selbstverständlich ist es möglich, die Häuser zum Be- und Entladen direkt anzufahren. Weitere (kostenpflichtige) Stellplätze für Besucher sind entlang der Quartierstraßen vorgesehen.
Strom für Verkehr und Wärme aus Wind und Sonne
Bei neuen Mixed-use-Projekten wie dem städtebaulichen Sahnestück „Überseeinsel“ in Bremen, früheres Industrieareal des Zerealienherstellers Kellogs, sollen Autos in den „Speckgürtel“ des Quartiers verbannt werden. So will es der private Investor Klaus Meier. Die Rede ist von einem Baugrund an der Weser im Eigentum von Meier. Hier soll ein Modellquartier entstehen, das Synergien aus Energie- und Mobilitätswende schaffen will. Die Weser funktioniert dabei wie eine riesige Wärmequelle für elektrische Wärmepumpen. Das energetische Potenzial des Flusses ist im Vergleich zur Geothermie wesentlich größer und soll zum Heizen und Kühlen genutzt werden. Eine sprichwörtlich nachhaltige Rechnung, die trotz anfänglich hoher Investitionen beispielsweise in das Herzstück des Wärmekonzeptes mit kaskadierten Wärmepumpen aufgehen soll. Alle neuen Gebäude im Quartier werden außerdem im Rahmen des Gesamtenergiekonzeptes mit Photovoltaik ausgestattet. Private wie gewerbliche Mieter bekommen so nach Fertigstellung nicht nur „grüne“ Wärme und Kälte zum vernünftigen Preis, annähernd vergleichbar einer konventionellen Versorgung, sind sich die Macher einig. Auch lästige Klimaanlagen auf den Dächern würden durch das Nahkältenetz verschwinden.Meier ist weder Bauprofi noch Stadtentwickler, aber als Gründer des größten deutschen Offshore-Windanlagen-Betreibers wpd AG intimer Kenner der weltweiten Wind- und Solarparkszene.
Apartments ohne Parkplatz sind schwer zu vermieten
Nicht alle Marktakteure applaudieren bei Carsharing-Konzepten. Obwohl Berlin eine Stadt mit notorischen Parkplatz- und Verkehrsproblemen ist und die folglich einen Markt für Carsharing bietet, sorgen sich Verkäufer um ihr Geschäft in der Hauptstadt. Antje Hiller, geschäftsführende Gesellschafterin der Rohrer Hausverwaltung in Berlin, nennt ihr Beispiel aus dem Berufsalltag, wo die baurechtlich begrenzte Zahl von Pkw-Stellplätzen eher zu niedrig erscheint. „Die Nachfrage nach möblierten Mikroapartments mit Stellplätzen ist in Berlingroß. Apartments ohne Parkplatz werden schlecht vermietet. Die meisten Mieter dieser Mikroapartments sind Handwerker, Vertriebsmitarbeiter und Führungskräfte, die immer mit dem Auto unterwegs sind. Hier brauchen wir dringend die Möglichkeit, mehr Stellplätze zu bauen und anbieten zu können.“Dass die Diskussion um Carsharing in Teilen ambivalent verläuft, ist nach den Worten von Verkehrsplanerin Gisela Stete erklärbar. Viele Investoren und Entwickler seien weiter dem traditionellen Denken verpflichtet, wonach Wohnungen ohne Stellplatz nur schwer vermittelbar sind. Sie wisse aber auch von zahllosen Projekten mit Vorbildcharakter, wo es funktioniere. Die Investition in ein attraktives Mobilitätskonzept sei letztlich eine wertsteigernde Maßnahme, die den Mietern und Eigentümern der Immobilie direkt zugutekommt, ist Stete überzeugt.
Hans-Jörg Werth

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