So wachsen Bäume doch in den Himmel
Kunst oder Garten? An die im Jahr 2014 fertiggestellten imposanten Mailänder Zwillingstürme „Bosco Vertikale“ setzte man scheinbar schwebende Balkone mit gut 800 Bäumen und 5.000 Sträuchern – und damit neue Maßstäbe in Sachen kreativer Fassadengärtnerei. An dem elfstöckigen und energieautarken Rathaus im niederländischen Venlo zieht sich ein eleganter Rankteppich empor, durchbrochen von einem kubischen Fenstermuster. Und mit dem geplanten 11-stöckigen Luxushotel Citicape House in London entsteht mit dem filigran anmutenden Gitter aus 400.000 Pflanzen die größte lebende Hauswand Europas.
Begrünte Fassaden liegen im Trend
Platz für Grünflächen in der Horizontalen ist in den verdichteten Großstädten längst knapp. Warum also die Flora nicht einfach die Wände hochziehen? Bereits seit Jahren propagiert, gewinnt diese Idee mehr und mehr Anhänger. „Das Interesse an vertikalen Gärten nimmt stark zu, sie werden von Architekten immer öfter mitgedacht“, sagt Kilian Lingen, Projektleiter beim Freiburger Unternehmen Vertiko, welches Komplettlösungen zur Fassadenbegrünung anbietet. Auch in Deutschland demonstrieren verschiedene Gebäude längst eindrucksvoll, wie vielfältig und spektakulär die Möglichkeiten sind, wobei sich grundsätzlich zwei Wege einschlagen lassen: boden- oder wandgebundene Begrünung (s. Kasten).
„Fassaden liefern neben Dächern in den engen Metropolen wertvollen Raum für die Gärten der Zukunft“, sagt Dr. Gunter Mann, Präsident des Bundesverbands Gebäudegrün (BUGG). Auch das Interesse von Städten und der Politik sei derzeit groß, vor allem nach dem heißen und trockenen Sommer 2019. Von Berlin über Köln bis nach Stuttgart setzen sich die Verantwortlichen in den Rathäusern für die Vegetation am Bau ein oder legen bereits Förderprogramme auf. „Je nach Stadt kann es Unterstützung für die Begrünung von Fassaden geben, bisher allerdings nur für bodengebundene Systeme“, so Mann. Alle zwei Jahre fragt der BUGG in deutschen Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern die direkten und indirekten Förderungen dafür ab (www.gebaeudegruen.info). So unterstützt beispielsweise die Stadt Köln das Wandgrün mit bis zu 40 Euro pro Quadratmeter und maximal 20.000 Euro pro Objekt.
Nach dem heißen Sommer 2019 wächst das Interesse
Weil in Großstädten die Grünflächen schwinden, soll die Vertikalbepflanzung einen Ausgleich bringen und das urbane Klima verbessern. Schließlich reinigen die Pflanzen die Luft und schlucken obendrein den Lärm. „Sie wirken urbanen Hitzeinseln entgegen und bieten sogar neue Lebensräume für Insekten und Vögel“, so Mann. Im Sommer kühlen sie das Gebäude und helfen im Winter beim Energiesparen, schützen ebenso vor Witterungseinflüssen wie vor Graffiti. „Zudem sehen begrünte Fassaden einfach schön aus und man fühlt sich wohl“, so Mann.
Fassadenbäume werden zwei Meter groß
Die Ideen rund um die hängenden Gärten werden dabei immer kühner und machen Häuser zu wahren Eyecatchern. Die Gravitationsbiologin Alina Schick vom 2017 gegründeten Start-up Visioverdis etwa setzt ganze Bäume horizontal an die Fassade, dazwischen wachsen je nach Wunsch Stauden und Gräser. Damit Kugelkiefer, Kirschlorbeer oder Liguster nicht schräg zur Sonne, sondern senkrecht zur Seite streben, rotieren sie in einer speziellen Konstruktion fortwährend um die horizontale Achse. Die Bäume werden maximal zwei Meter hoch. GraviPlants hat Schick ihr innovatives System genannt, das die Bäume auch gleich mit Wasser und Nährstoffen versorgt. „Es ist wichtig, das botanische Potenzial der Mega-Citys besser zu nutzen, dafür eignen sich Fassaden bestens“, so Schick. Selbst eine mehrschichtige Vegetation, wie wir sie aus Wäldern kennen, sei vielerorts machbar.
Fassadengrün wirkt wie eine Extra-Dämmschicht
Daneben würde die Begrünung auch gleich als Extra-Dämmschicht dienen und so den jährlichen Primärenergiebedarf senken. „Vor allem die Klimaanalage muss dann seltener eingeschaltet werden, im Hinblick auf die Erderwärmung ein wichtiger Pluspunkt“, findet Schick, die europaweit bereits mehrere Projekte umgesetzt hat. Als nächstes wird an der Volkshochschule am Stuttgarter Rotebühlplatz ein vertikaler Garten mit drei GraviPlants installiert.
Dass die Fassadenbotanik auch ohne Bäume beeindruckt, zeigen die Projekte von Vertiko. Bei einem Wohnhaus in der Glogauer Straße in Berlin etwa wurden im Jahr 2016 gut 170 m2 Fläche mit immergrünen Stauden wie Thymian, Purpurglöckchen, Bergenien, Storchenschnabel und Schleifenblumen bestückt. Grünes und rotes Blattwerk in unterschiedlichen Schattierungen durchbrechen je nach Jahreszeit farbige Blüten. Solche Living Walls bestehen aus einer hinterlüfteten Fassade, auf der die Pflanzen in speziellen Vliestaschen sitzen. Substrat und Tropfrohre in den Taschen sorgen für ein gesundes Wachstum, wobei Bewässerung und Düngung von einer smarten Anlage gesteuert werden. „Wir haben insgesamt weit über 300 Pflanzenarten getestet und wählen je nach Standort und Wünschen des Auftraggebers eine passende Kombination aus“, erklärt Lingen von Vertiko. Bei der Zusammenstellung spiele es stets eine wichtige Rolle, wie die Arten im Jahresverlauf ihre Blattfarbe verändern und wann sie Blüten tragen, „wir möchten ein harmonisches Bild kreieren, welches selbst im Winter ansprechend wirkt“.
Das gilt auch für vier Gebäude in der Michendorfer und Luckenwalder Straße, wo auf einer Höhe von 6 bis 18 Metern Pflanzenstreifen die hell verputzten Fassaden auflockern – und gleichzeitig als klare gestalterische Elemente fungieren. „Der Eigentümer wollte damals die Wohnblocks mit einer Begrünung attraktiver gestalten und hatte von Anfang an sehr konkrete Vorstellungen“, berichtet Lingen. Für den Außenbereich des Turmcafés in Freiburg wiederum legte Vertiko ein freistehendes Tragsystem für eine üppige Botanikwand an.
Efeu und Wein bilden eine bodengebundene Fassadenbegrünung. Wie diese mit der Architektur von heute harmoniert, zeigt etwa das Green City Hotel in Freiburg, an dem sich luftig leicht die Kletterpflanzen emporranken. Moderne Kletterhilfen und wandgebundene Systeme eröffnen inzwischen ganz neue gestalterische Möglichkeiten – und beugen auch Schäden an der Fassade, die vor allem Kletterpflanzen verursachen können, vor. „Ob und wie die Fassade letztendlich begrünbar ist, sollte aber immer ein Fachmann beurteilen“, betont Mann. Beton, Putz, Holz oder Metall – bei der Verankerung einer Kletterhilfe spiele das Material der Wand eine entscheidende Rolle. Zudem gelte es zu prüfen, welcher Spielraum für zusätzliche Lasten vorhanden ist. „Ohne tragfähige Wand ist eine wandgebundene Fassadenbegrünung nicht umsetzbar“, so Lingen. Die Living Walls von Vertiko etwa wiegen im wassergesättigten Zustand bis zu 33 kg pro Quadratmeter.
Soll das Gebäude ohnehin energetisch saniert werden, kann die vorgehängte Fassade mit den Pflanztaschen aber auch gleich bei der Dämmleistung berücksichtigt werden. „Laut einer Untersuchung des Bayerischen Zentrums für Angewandte Energieforschung wirkt unsere vorgehängte Living Wall bereits wie eine Dämmschicht von drei Zentimetern“, so Lingen.
Ein Thema sei zudem immer wieder der Brandschutz. In der Glogauer Straße in Berlin etwa bestehen die Montageplatten aus Alu-Cobond A2 und es wurde ein Brandschutzriegel im Hinterlüftungsraum integriert. „Inzwischen können wir aber einen Systemaufbau mit ausschließlich nicht brennbaren Komponenten herstellen“, so Lingen.
Fassadengrün muss gepflegt werden
Sprießt das Fassadengrün, muss es wie jeder Garten gepflegt werden. Der Mantel aus Blattwerk und Blüten wird in der Regel automatisch über eine intelligente Anlage mit Wasser und Nährstoffen versorgt. Zudem müssen Kletterpflanzen je nach Art und Alter unterschiedlich intensiv gepflegt werden, während wandgebundene Systemen meist ein bis zwei Pflegegänge pro Jahr benötigen. „Außerdem wird das System dabei auch technisch überprüft und Pflanzen unter Umständen ausgetauscht“, erklärt Schick von Visioverdis.
Mit einer Erneuerung der Stauden von bis zu zehn Prozent im Jahr rechnet man bei Vertiko, Pflege und Wartung übernimmt das Unternehmen auf Wunsch gleich mit. Für die wandgebundene Variante belaufen sich die entsprechenden Kosten für eine Fläche von 100 m2 auf durchschnittlich 4.200 Euro im Jahr. Zum Vergleich: Die Pflege einer bodengebundenen Begrünung kostet für 200 m2 2.800 Euro jährlich. „Die geringeren Pflegekosten von Kletterpflanzen setzen jedoch immer eine vernünftige Planung voraus“, so Lingen.
Große Ausfälle kommen grundsätzlich nur selten vor, auch weil in den vergangenen Jahren die Bewässerungs- und Versorgungstechnik sowie das Substrat stetig verbessert wurden. „Die Systeme sind sehr langlebig, unsere ersten Living Walls sind zehn Jahre alt und stehen immer noch“, berichtet Lingen. Und das wird wohl vorerst so bleiben, schließlich sollen die vertikalen Gärten so lange überdauern wie die Gebäude selbst.
Zwei Wege fürs Wandgrün
Bettina Brüdgam
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