Eigenbedarfskündigung

Leibliche Nichten und Neffen des Vermieters sind kraft ihres nahen Verwandtschaftsverhältnisses zum Vermieter Familienangehörige im Sinne von § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB (Fortführung des Senatsurteils vom 9. Juli 2003 - VIII ZR 276/02, NJW 2003, 2604).

1167
Bild: fabstyle/stock.adobe.com
Bild: fabstyle/stock.adobe.com

Aus dem Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Rückgabe einer von den Beklagten gemieteten Wohnung in B. sowie Erstattung vorgerichtlich entstandener Rechtsanwaltskosten.

Im Sommer 2004 zog die damals 85-jährige Klägerin aus ihrer Eigentumswohnung in B. aus und übersiedelte in die nahe gelegene Seniorenresidenz "Be. ". Sie vermietete die Wohnung ab dem 1. September 2004 an die Beklagten zu einer monatlichen Miete von 1.050 Euro; ab Oktober 2006 mieteten die Beklagten zusätzlich eine zu der Wohnung gehörende Garage für 50 Euro monatlich.

Mit notariellem Vertrag vom 17. August 2007 übertrug die verwitwete und kinderlose Klägerin das Eigentum an der Wohnung schenkungsweise im Wege vorweggenommener Erbfolge auf ihre in W. wohnende Nichte; dabei behielt sich die Klägerin den Nießbrauch an der Wohnung vor. In § 4 des Vertrages verpflichtete sich die Nichte als Gegenleistung gegenüber der Klägerin, auf Lebenszeit deren Haushalt in der Seniorenresidenz zu versorgen und die häusliche Grundpflege der Klägerin zu übernehmen. Die Vertragschließenden vereinbarten zur Sicherung dieser Verpflichtung die Eintragung einer Reallast im Grundbuch und erklärten, dass die Nichte "beabsichtigt, in nächster Zukunft in die hier übertragene Eigentumswohnung zu ziehen, so dass es ihr räumlich möglich wird, die vorstehende Pflegeverpflichtung persönlich zu erfüllen". Der Vertrag wurde im Grundbuch vollzogen.

Durch Anwaltsschreiben ihres erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten ließ die Klägerin seit August 2007 mehrfach sowohl fristlose als auch ordentliche Kündigungen des mit den Beklagten bestehenden Mietverhältnisses aussprechen. Als Kündigungsgründe wurden zunächst nur verspätete Mietzahlungen geltend gemacht, später auch Eigenbedarf aufgrund der Pflegevereinbarung im Vertrag vom 17. August 2007 und schließlich noch der Höhe nach un-streitige Teilbeträge der Miete, die die Beklagten wegen behaupteter Mängel der Mietwohnung einbehalten haben.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Rückgabe der Wohnung nebst Garage verlangt und einen Zahlungsanspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten in Höhe von 1.101,46 Euro nebst Zinsen gemäß der Gebührenrechnung ihres erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten vom 14. März 2008 geltend gemacht. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen und hat im Hinblick darauf, dass es die auf Eigenbedarf gestützte ordentliche Kündigung vom 14. März 2008 für gerechtfertigt gehalten hat, gemäß § 308a ZPO die Anordnung getroffen, dass das Mietverhältnis zwischen den Parteien zu denselben Konditionen wie bisher auf unbestimmte Zeit, mindestens jedoch bis zum 31. August 2009, fortgesetzt wird. Das Landgericht hat die Berufung der Klägerin mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die im Urteil des Amtsgerichts getroffene Anordnung über die Fortsetzung des Mietverhältnisses ersatzlos in Wegfall gerät. Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Klägerin, mit der diese ihr Rückgabe- und Zahlungsbegehren im Hinblick auf die ordentliche Kündigung vom 14. März 2008 wegen Eigenbedarfs und die fristlose Kündigung vom 20. November 2008 wegen Zahlungsrückständen weiterverfolgt.

Aus den Entscheidungsgründen

Die Revision hat im Wesentlichen Erfolg.

I.
II. Die Beurteilung des Berufungsgerichtes hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

A. Die Revision ist entgegen der Auffassung der Klägerin nur insoweit zulässig, als sich das Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts über die Kündigung wegen Eigenbedarfs vom 14. März 2008 wendet. Denn das Berufungsgericht hat die Zulassung der Revision wirksam auf die Frage der Beendigung des Mietverhältnisses durch diese ordentliche Kündigung beschränkt. Soweit die Revision das Berufungsurteil auch hinsichtlich der Entscheidung über die fristlose Kündigung vom 20. November 2008 angreift, ist das Rechtsmittel dagegen mangels Zulassung durch das Berufungsgericht als unzulässig zu verwerfen.

B. Soweit die Revision zulässig ist, hält die Beurteilung des Berufungsgerichts der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Ein Anspruch der Klägerin aus § 546 Abs. 1 BGB auf Rückgabe der von den Beklagten gemieteten Wohnung kann nicht mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung verneint werden. Die Kündigung vom 14. März 2008, mit der die Klägerin das Mietverhältnis hilfsweise wegen Eigenbedarfs zum 30. Juni 2008 ordentlich gekündigt hat, ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts gemäß § 573 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2, § 573c Abs. 1 BGB wirksam. Auf die Rechtsfrage, zu deren Klärung das Berufungsgericht die Revision zugelassen hat, kommt es nicht an, weil das Amtsgericht die Wirksamkeit der Eigenbedarfskündigung mit Recht bejaht hatte und das Berufungsgericht davon nicht hätte abweichen dürfen.
Nach § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB liegt ein berechtigtes Interesse des Vermieters an der Beendigung des Mietverhältnisses vor, wenn der Vermieter die Räume als Wohnung für sich, seine Familienangehörigen oder Angehörige seines Haushalts benötigt. Die Revision beanstandet mit Recht, dass das Berufungsgericht die Nichte der Klägerin nicht als Familienangehörige im Sinne dieser Bestimmung angesehen und aus diesem Grund die Kündigung für nicht wirksam gehalten hat.

1.) Der Senat hat entschieden, dass Geschwister des Vermieters kraft ihres nahen Verwandtschaftsverhältnisses privilegierte Familienangehörige im Sinne von § 573 Abs. Nr. 2 BGB sind; zwischen Geschwistern besteht ein so enges Verwandtschaftsverhältnis, dass es eines zusätzlichen einschränkenden Tatbestandsmerkmals, wie etwa einer engen sozialen Bindung zum Vermieter, nicht bedarf (Urteil vom 9. Juli 2003 - VIII ZR 276/02, NJW 2003, 2604, Ls. und unter II 1, zu § 564b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB aF).
Damit hat der Senat zum Ausdruck gebracht, dass für die Bestimmung des Kreises der durch § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB privilegierten Familienangehörigen bei entfernten Verwandten ein zusätzliches Kriterium heranzuziehen ist, das auf die konkrete persönliche oder soziale Bindung zwischen dem Vermieter und seinem Angehörigen im Einzelfall abstellt. Dass eine solche Einschränkung bei entfernten Verwandten aufgrund des Gesetzeszwecks - Kündigungsschutz des Mieters - geboten ist, entspricht auch der einhelligen Auffassung in Rechtsprechung und Literatur. Je weitläufiger der Grad der Verwandtschaft oder Schwägerschaft ist, umso enger muss die über die bloße Tatsache der Ver-wandtschaft oder Schwägerschaft hinausgehende persönliche oder soziale Bindung zwischen dem Vermieter und dem Angehörigen im konkreten Einzelfall sein, um eine Kündigung wegen des Wohnbedarfs eines Angehörigen zu rechtfertigen (OLG Braunschweig, WuM 1993, 731, 732; Staudinger/Rolfs, aaO, Rdnr. 79).

2.) Nichten und Neffen des Vermieters gehören zwar nicht mehr zu dessen engsten Angehörigen wie Eltern, Kinder oder Geschwister, sie sind aber als Kinder der Geschwister entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts immer noch eng verwandt mit dem Vermieter und gehören nicht, wie das Berufungsgericht gemeint hat, zu den entfernten, nur weitläufig Verwandten. Das Gesetz erlaubt die Kündigung von Mietverhältnissen wegen des Wohnbedarfs von Familienangehörigen, weil es davon ausgeht, dass innerhalb der Familie aufgrund enger Verwandtschaft ein Verhältnis persönlicher Verbundenheit und gegenseitiger Solidarität besteht, das die Privilegierung einer Kündigung zugunsten von Familienangehörigen rechtfertigt. Vom Bestehen einer solchen familiären Verbundenheit und Solidarität, die nicht im Einzelfall nachgewiesen sein muss, ist nicht nur bei Geschwistern auszugehen (Senatsurteil vom 9. Juli 2003, aaO), sondern auch bei deren Kindern, das heißt den leiblichen Nichten und Neffen des Vermieters.
Diese Wertung ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut der Vorschrift. Denn der Gesetzgeber hat den Begriff der Familienangehörigen in § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB nicht näher bestimmt; auch aus den Gesetzesmaterialien ist für dessen Auslegung nichts zu entnehmen. Die generelle Einbeziehung von Nichten und Neffen in den Kreis der privilegierten Familienangehörigen ist aber vor dem Hintergrund anderer Regelungen der Rechtsordnung gerechtfertigt, in denen ebenfalls Familienangehörige allein aufgrund ihrer engen verwandtschaftlichen Beziehung privilegiert werden, ohne dass eine tatsächlich bestehende persönliche Verbundenheit im Einzelfall nachgewiesen werden muss. Einen Anknüpfungspunkt dafür, wie weit der Kreis der Familienangehörigen in diesem Sinn zu ziehen ist, bieten die Regelungen über das Zeugnisverweigerungsrecht aus persönlichen Gründen (§ 383 ZPO, § 52 StPO), in denen der Kreis der privilegierten Familienangehörigen - unabhängig vom tatsächlichen Bestehen persönlicher Bindungen - konkretisiert wird. Gemäß § 383 Abs. 1 Nr. 3 ZPO und § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO steht ein Zeugnisverweigerungsrecht - neben Verlobten, Ehegatten und Lebenspartnern (§ 383 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 2a ZPO, § 52 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 2a StPO) - auch denjenigen zu, die mit einer Partei in gerader Linie verwandt oder verschwägert sind, sowie denjenigen, die in der Seitenlinie bis zum dritten Grad verwandt oder bis zum zweiten Grad verschwägert sind oder waren. Damit gehören auch Nichten und Neffen noch zu dem Personenkreis, dem allein aufgrund enger verwandtschaftlicher Beziehung zur Partei ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht. In dieser Regelung kommt zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber Nichten und Neffen ohne Weiteres noch als enge Familienangehörige ansieht. Diese gesetzgeberische Wertung ist bei der Auslegung des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB zu berücksichtigen und rechtfertigt es, Nichten und Neffen auch hier in den Kreis der privilegierten Familienangehörigen einzubeziehen. Bei ihnen bedarf es deshalb - ebenso wie bei Geschwistern des Vermieters (Senatsurteil vom 9. Juli 2003, aaO) - über die Tatsache der Verwandtschaft hinaus nicht eines zusätzlichen einschränkenden Tatbestandsmerkmals wie etwa einer tatsächlich bestehenden engen sozialen Bindung zum Vermieter. Es kommt deshalb im vorliegenden Fall nicht darauf an, dass nach den Feststellungen des Berufungsgerichts eine enge persönliche Beziehung zwischen der Klägerin und ihrer Nichte als ihrer einzigen noch lebenden Verwandten tatsächlich besteht.

III. … Hinsichtlich des auf die Eigenbedarfskündigung vom 14. März 2008 gestützten Räumungsbegehrens hat die Berufung Erfolg. Die Beklagten sind zur Rückgabe der Wohnung verpflichtet, weil die ordentliche Kündigung vom 14. März 2008, wie ausgeführt, wirksam ist. Die Kündigung hat das Mietverhältnis mit Ablauf des 30. Juni 2008 beendet (§ 573c Abs. 1 BGB). Für die vom Amtsgericht nach § 308a ZPO i.V.m. §§ 574 ff. BGB getroffene Anordnung über eine unbefristete, mindestens bis zum 30. September 2009 dauernde Fortsetzung des Mietverhältnisses ist kein Raum mehr. Der Senat kann den Sachverhalt zu der für eine Anordnung nach § 308a ZPO maßgeblichen Frage, ob die Beendigung des Mietverhältnisses eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist (§ 574 Abs. 1 Satz 1 BGB), selbst würdigen, weil das Berufungsgericht hierzu - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - keine Feststellungen getroffen hat und weitere Feststellungen auch nicht zu erwarten sind.
Es kann dahingestellt bleiben, ob es für die Beklagten im Anschluss an die Kündigung vom 14. März 2008 zumutbar war, die im September 2004 angemietete Wohnung bereits mit Ablauf des 30. Juni 2008 wieder zu verlassen. Denn inzwischen sind mehr als eineinhalb Jahre vergangenen, in denen die Beklagten in der Wohnung weiter gelebt haben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bedeutet die Räumung der Wohnung für die Beklagten in Anbetracht des berechtigten Interesses der hochbetagten Klägerin, ihre Nichte in ihrer Nähe zu haben und von ihr betreut zu werden, jedenfalls keine unzumutbare Härte mehr. Gründe für eine solche Härte sind von den Beklagten weder dargelegt worden noch ersichtlich. Die Beklagten haben insbesondere nicht geltend gemacht, dass sie angemessenen Ersatzwohnraum zu zumutbaren Bedingungen nicht beschaffen könnten (§ 574 Abs. 2 BGB). Sie haben sich in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht am 1. Juli 2008 lediglich darauf berufen, es sei ihnen unzumutbar, nach so kurzer Zeit schon wieder auszuziehen, sie seien schließlich keine "Nomaden". Eine unzumutbar kurze Mietzeit liegt aber nicht mehr vor, nachdem das Mietverhältnis mittlerweile mehr als fünf Jahre bestanden hat. Auch das Amtsgericht ist bei seiner Anordnung über die Fortsetzung des Mietverhältnisses davon ausgegangen, dass sich die Interessenabwägung nach Ablauf von fünf Jahren zu Gunsten der Klägerin anders darstellen kann, als es das Amtsgericht für den Zeitpunkt seiner Entscheidung angenommen hat.

Gericht: BGH
Aktenzeichen: VIII ZR 159/09
Urteil vom: 27.01.2010

Redaktion (allg.)

Pixabay/ Mohamed_hassan

◂ Heft-Navigation ▸

Artikel Eigenbedarfskündigung
4.10.2023
Miet-Recht | Eigenbedarf
Gelegentlich streiten Mieter und Vermieter in einer Art und Weise, die eine gedeihliche Fortsetzung des Mietverhältnisses – jedenfalls aus Sicht jeweils einer Partei – aussichtslos erscheinen lassen...
25.2.2022
Eigenbedarf
Eine Kündigung wegen Eigenbedarfs setzt ein konkretes Interesse an einer alsbaldigen Nutzung voraus. Aktuelles Urteil: Landgericht Berlin, Urteil vom 29. Juni 2021, Aktenzeichen 65 S 344/20.
30.5.2022
Der Erwerber einer Wohnung tritt auch in Allgemeine Geschäftsbedingungen ein, die er nicht kennt. Landgericht Berlin, Beschluss vom 27. Oktober 2021 - 65 S 125/21
3.11.2022
Miete
Zu den Pflichten des Mieters aus dem Mietverhältnis gehört nicht nur die Zahlung der Miete an sich, sondern auch die Zahlung der Miete bei Fälligkeit, also die pünktliche Mietzahlung. Die wiederholte...
1.4.2022
Steuerermäßigung
10.10.2022
Insolvenzverfahren im Wohnraumverhältnis
Derzeit schnellen die Nebenkosten massiv in die Höhe. Eine starke Inflation und explodierende Energiepreise machen Mietern und Vermietern Sorgen. Wenn Wohnungsmieter insolvent sind, stehen Themen wie...