Rohstoff-Datenbanken und Gebäudematerial-Pässe nutzen!
Die Situation ist paradox: Während die Preise für Baumaterialien steigen – seit Januar 2021 haben sich Betonstahlmatten um 70 Prozent, Dämmplatten um 38 Prozent und Bauholz um 60 Prozent verteuert –, türmen sich die Berge von Bau- und Abbruchabfällen immer höher auf. Mit rund 230 Millionen Tonnen pro Jahr ist der Bausektor der größte Müllverursacher in Deutschland. Weil ortsnahe Deponien oftmals keine Kapazitäten mehr haben, fahren Entsorgungsunternehmen mitunter kilometerweit, um die baulichen Hinterlassenschaften loszuwerden. Nicht selten landen Bauabfälle illegal im Restmüll oder in der Landschaft. Würde das enorme Recyclingpotenzial von Bauschutt konsequent genutzt, blieben wertvolle Ressourcen erhalten und könnten erneut eingesetzt werden. Noch ist das Zukunftsmusik.
Recyclingpotenzial bleibt ungenutzt
Beispiel Beton, Backsteine oder Fliesen: Zwar wurden von den rund 74 Millionen Tonnen, die im Jahr 2018 an mineralischen Abfällen aus Bauschutt und Straßenaufbruch in Deutschland anfielen, rund 60 Millionen Tonnen recycelt. Allerdings kamen die aufbereiteten Baustoffe vorwiegend als Gesteinskörnungen im Straßen-, Erd- und Deponiebau zum Einsatz, wurden also „down recycelt“. Im Hochbau spielten sie so gut wie keine Rolle. Ähnlich verhält es sich mit Altholz, Glas und kunststoffbasierten Produkten wie Bodenbeläge oder Dämmung. Für sie alle heißt es am Ende eines Gebäudelebenszyklus für gewöhnlich: ab in den Müll. Denn für den erneuten Einsatz in gleicher Qualität sind sie nicht gemacht. Eine Verschwendung, die nicht nur unter ökologischen Aspekten untragbar ist, sondern auch ökonomisch keinen Sinn macht. Die Crux: Bisher fehlen Instrumente, die recyclingfähiges Bauen und Sanieren unterstützen. Das ändert sich gerade.
Städte zu Rohstoffminen machen
Damit Städte in Zukunft als Rohstoffmine für den Bau neuer Gebäude nutzbar sind, entwickelte die Architektin Dr. Anja Rosen, Honorarprofessorin für zirkuläres Bauen an der Bergischen Universität Wuppertal, den „Urban Mining Index“. Das Excel-basierte Planungs- und Bewertungstool ermöglicht Gebäude so zu konzipieren und zu sanieren, dass recyclingfähige Materialien verwendet werden können.
Das funktioniert dergestalt, dass jedes Bauteil auf seine Wiederverwendungsfähigkeit überprüft wird, wie es erneut eingesetzt werden kann und ob sich sein Rückbau wirtschaftlich lohnt. „Erstmals wird der selektive Rückbau schon in der Planungsphase berücksichtigt und die Möglichkeiten des selektiven Rückbaus werden bewertet“, so die Wissenschaftlerin auf der Jahreskonferenz der Ressource Stiftung im Oktober 2021 in Berlin.
Die Bauindustrie behaupte zwar immer, die Recyclingrate in Europa läge bereits bei über 80 Prozent. Allerdings handele es sich dabei mitnichten um echtes Recycling, weshalb tunlichst zwischen den verschiedenen Stufen der Qualitätsnachnutzung zu unterscheiden sei. So würden mineralische Baustoffe wie Beton oder Mauerwerk gebrochen und zur Verfüllung genutzt oder landeten im Straßenbau. Diesen Wertverlust könne man sogar monetär beziffern, wenn man bedenke, dass eine Tonne Beton 130 Euro koste und für die Tonne eines Recyclingbaustoffes nur 8 bis 10 Euro zu zahlen wäre. Das Ziel müsse deshalb sein, möglichst hochwertige Verwendungswege zu finden, wofür der Index die Systematik biete. Vorreiterin im Einsatz des „Urban Mining Index“ ist das hessische Städtchen Korbach, das ihn für den Rück- und Neubau seines Rathausanbaus nutzte.
Dynamisches Materialkataster für Deutschland
Dass es bis zur systematischen Ressourcenbewirtschaftung im Bauwesen noch ein langer Weg ist, zeigte das Forschungsprojekt „R2Q – RessourcenPlan im Quartier“. Das Vorhaben untersuchte in den Herner Stadtteilen Baukau-Ost und Pantringshof exemplarisch den nachhaltigen Umgang mit den zunehmend knapp werdenden Ressourcen Fläche, Energie, Wasser und Baustoffe. Unter der Leitung von Dr. Sabine Flamme, Professorin für Ressourcenmanagement an der FH Münster, wurde ein Planungs- und Bewertungsinstrument konzipiert, mit dem Städte eine systematische, effiziente und methodenorientierte Bewirtschaftung der genannten Ressourcen im Quartier realisieren können. Das Potenzial ist riesig: Allein die mineralischen Fraktionen verzeichnen jährlich einen Zuwachs von rund 550 Millionen Tonnen, während die Entnahme bei nicht einmal der Hälfte liegt.
„Wir haben in allen Bauwerken große Rohstoffquellen. Das Problem ist, dass wir keine ausreichende Dokumentation der dort verbauten Materialien haben“, so die Wissenschaftlerin.
Die bisherige Wertschöpfungskette im Bauwesen ist rein linear: Was einmal verbaut ist, ist verbaut und kommt im Abriss- oder Sanierungsfall auf die Deponie, nicht aber zurück in den Materialkreislauf und in gleicher Qualität wieder auf die Baustelle. Das Projekt leistet hier wertvolle Pionierarbeit, indem es Daten aus den Katasterämtern in digitalisierter Form mit GIS-Informationen und Materialkennwerten kombiniert, um daraus die Verfügbarkeit von Materialien abzuleiten. Idealerweise entsteht mit der Zeit ein dynamisches Kataster flächendeckend für ganz Deutschland.
Transparenz bis zur kleinsten Schraube
Der Gebäudematerialpass kann ebenfalls ein Mittel zur Ressourcenschonung und zur Vermeidung von Bauabfällen sein. Der Ausweis ist ein Werkzeug, das ermöglicht, die Wiederverwendbarkeit von Materialien bereits in der Planung zu berücksichtigen, damit diese nach dem Abriss recycelt und in gleicher Qualität erneut verbaut werden können. Bis zur kleinsten Schraube lässt sich in ihm dokumentieren, welches Material und welches Produkt von welchem Hersteller stammt. Ist das Bauwerk fertiggestellt, informiert der Pass anhand von farbigen Kreisdiagrammen über die Demontagefähigkeit oder Materialverwertbarkeit einer Immobilie. Grün signalisiert eine durchweg positive Bewertung. Bei Gelb sind die Chancen eher mittelprächtig. Rot bedeutet, dass es Probleme gibt. Was sonst einer Black Box gleicht, ist auf einen Blick ersichtlich: die Rcyclingfähigkeit und Ressourceneffizienz eines Gebäudes. So werden Immobilien zu Wertstoffdepots, die unendlich oft um- und rückbaubar sind, ohne je Müll zu hinterlassen.
Wertschöpfungskette verändert sich
Der Materialpass ist das Ergebnis des 2015 gestarteten, dreijährigen EU-Forschungsprojektes „Building as Material Banks“ (BAMB), an dem 15 europäische Unternehmen sowie Universitäten und Forschungsinstitute beteiligt waren. Aus Deutschland brachten Drees & Sommer und die TU München ihr Praxiswissen aus ersten Cradle-to-Cradle-Projekten ein, wie der Verwaltungsneubau der RAG-Stiftung in Essen und der Rathaus-Neubau der niederländischen Stadt Venlo.
Zunächst entwickelte das Team eine BIM-fähige Systematik und Datenbank, damit die Informationen aus einem BIM-Modell verlustfrei in einen elektronischen Materialpass zu transferieren sind und sich diese umgekehrt aus einem Materialpass in ein BIM-Modell exportieren lassen. Zudem wurde an Baukonstruktionen mit recyclingfähigen Materialien getüftelt. Der inzwischen marktreife Ausweis stößt zunehmend auf Interesse bei Bauherren und Projektentwicklern. In diesem Jahr stelle man voraussichtlich acht Pässe aus, schätzt Markus Diem, Leiter des Hamburger EPEA-Büros, ein Tochterunternehmen von Dress & Sommer. Im kommenden Jahr dürften es vermutlich über 20 werden, darunter der für das Holz-Hybridgebäude „The Cradle“ in Düsseldorf. Überdies ist der Materialpass für das in der HafenCity entstehende „Moringa“ in der Pipeline, der erste nach Cradle-to-Cradle-Prinzipien konzipierte Wohnkomplex Deutschlands. „Der Materialpass ist ein wichtiges Instrument, das die erforderliche Transparenz zur Etablierung der Circular Economy im Immobilienbereich schafft“, ist Judith Busa, Teamleiterin Real Estate im Hamburger EPEA-Büro sicher. Mit ihm lasse sich nicht nur die Kreislauffähigkeit von Materialien stichhaltig nachweisen, was Pluspunkte für eine DGNB-Zertifizierung bringe, sondern er erlaube zugleich Rückschlüsse auf den Restwert der Rohstoffe, die in einem Gebäude stecken.
Ein Grundbuch für Materialien
Die Online-Plattform Madaster (eine Wortzusammensetzung aus „Material“ und „Kataster“) führt den Transparenzgedanken einen Schritt weiter. „Madaster stellt ein digitales Grundbuch dar, in dem die Daten aus Gebäudematerialpässen inventarisiert sind, um so die Kreislaufwirtschaft bei Neu-, Um- und Rückbau zu organisieren“, erläutert Dr. Patrick Bergmann, Geschäftsführer von Madaster Germany. Je mehr bei Madaster mitmachten, um so größer werde der Materialpool und damit die verbundenen Wertschöpfungsmöglichkeiten. In den Niederlanden, wo das als gemeinnützige Stiftung organisierte Kataster seit September 2017 freigeschaltet ist, befänden sich Materialdaten von über 2.000 Gebäuden bereits auf der Plattform. Beispielsweise hat die Triodos Bank dort alle Produktinformationen ihres neu gebauten, 13.000 Quadratmeter umfassenden Hauptsitzes in Zeist nahe Utrecht hinterlegt. Die Bank residiert also praktisch in einer „Materialbank“, deren Werte als Anlagevermögen dienen oder anderweitig kapitalisiert werden können.
In Deutschland zählt das Netzwerk derzeit rund 29 strategische Partner (sogenannte „Kennedys“), zu denen unter anderem Arup, Becken Development, BUWOG Bauträger, Drees & Sommer, EDGE Technologies, Holcim und Schüco gehören. Auch die Berlin Hyp bringt sich mit ihrer Expertise in den Bereichen Bankwesen und Finanzierung ein, um die Realisierung kreislauffähiger Gebäude zu ermöglichen. Darüber hinaus arbeite man gemeinsam mit EPEA, Commerz Real und anderen Partnern an der genauen Materialerfassung von Bestandsbauten.
Bundesregierung plant digitalen Ressourcenpass
EPEA-Chef Diem geht davon aus, dass die Relevanz von Materialausweisen weiter steigt: „Aus unser Sicht dürften Gebäudematerialpässe für den Neubau perspektivisch den gleichen Stellenwert bekommen, wie ihn Energieausweise haben“. Dann wären sie beim Bauantrag – und später bei Vermietung und Verkauf – obligatorisch. Aus der jetzigen Kür könnte in nicht allzu ferner Zukunft also eine Pflicht werden. Zumal die Bundesregierung die Einführung eines digitalen Gebäude-Ressourcenpasses plant, der über verbaute Materialien informiert, damit Baustoffe effektiv wiederverwendet werden können. Zugleich zielt der Vorstoß auf klimafreundliches Bauen ab, denn der Abbau von Rohstoffen und deren Verarbeitung zu Bauprodukten belastet nicht nur die Umwelt, sondern verursacht zudem immense CO2-Emissionen. Für Wohnungsunternehmen ist es demnach höchste Zeit zu wissen, was in ihren Gebäuden drinsteckt.
Dagmar Hotze


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