Werkeln und wohnen
Die knappen Flächen in den Metropolen verdrängen alte Vorbehalte: „Das Miteinander von Gewerbe und Wohnen wird in all seinen Möglichkeiten ausgelotet, in die Quartiere zieht eine ganz neue Dynamik ein“, sagt Frank Conrad, Leiter der Stadtplanungsabteilung im Hamburger Bezirk Altona. Als Paradebeispiel dafür tritt das Quartier Kolbenhöfe an, das derzeit im Bezirk Altona in Ottensen, einer der begehrtesten Wohngegenden der Elbmetropole, entsteht.
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Rund um eine Werkshalle aus Backstein sind auf dem ehemaligen Gelände der Kolbenschmidt-Werke Wohnungen, Büros, Einzelhandel, Gastronomie und zwei Kitas geplant. Was das Bauvorhaben so besonders macht: In der historischen 8.000 Quadratmeter großen Halle 7 sitzen 21 Handwerksbetriebe – und das eben mitten im Quartier. Damit soll gezeigt werden, dass nicht nur Cafés, Friseure und Läden, sondern auch das Schwarze-Hände-Gewerbe bestens zum Wohnen passen.
Das Gelände gehört einem Joint Venture aus der Rheinmetall Immobilien GmbH aus Düsseldorf und Otto Wulff aus Hamburg, die das Projekt gemeinsam entwickeln. Das Hamburger Unternehmen plant 91 Eigentumswohnungen und 45 Wohnungen für eine Baugemeinschaft, zudem Gewerbeflächen. Daneben errichtet der Altonaer Spar- und Bauverein (altoba) 130 Wohnungen, 120 davon öffentlich gefördert, und eine Kita.
Im Juli starteten die Rohbauarbeiten auf dem ersten Baufeld der altoba. Weiter südlich auf dem Gelände hat das Unternehmen Otto Wulff inzwischen die alten Gebäude abgerissen und die Ver- und Entsorgungsleitungen gelegt. Gleich nebenan auf dem Areal, bisher Verwaltungssitz der Firma Hans Schwarzkopf & Henkel, sollen anschließend nochmals rund 250 Wohnungen sowie weiterer Raum für Gewerbe und eine zweite Kita entstehen.
Komplettiert wird das insgesamt fast acht Hektar große Entwicklungsgebiet dann mit dem benachbarten Gelände des Kreditversicherers Euler-Hermes, hier plant der Investor Quantum 460 Wohnungen.
Neue Wohnungen entstehen rund um eine alte Werkshalle
Auf dem Areal Kolbenhöfe I wurde die alte Werkshalle so saniert, dass man von den Handwerksbetrieben, die hier inzwischen wieder schrauben, sägen und hämmern, in den Wohnhäusern später möglichst wenig hört. „Nach Süden, wo die Halle an Wohnungen grenzt, hat der Gewerbehof keine Fenster oder Tore, das hält die Geräuschemissionen in diese Richtung sehr gering“, berichtet Stadtplaner Conrad. Gen Norden schließt ein Magazingebäude für Gewerbebetriebe an, dazwischen soll der Gewerbeverkehr laufen. Im Osten wiederum erstreckt sich als Puffer eine weitere langgestreckte Bestandshalle, in der Bürolofts und im Erdgeschoss Gastronomie und Läden geplant sind. Erst im dahinterliegenden Bau sieht das Konzept ab dem zweiten Stock Wohnungen vor. „Der Schall, wenn er dann doch mal im Sommer bei geöffneten Fenstern aus der Halle dringen sollte, strahlt nicht mehr bis ins zweite Obergeschoss aus“, erklärt Otto Wulff-Projektleiter Stefan Seifert-Fehrmann. Zwischen Werkshalle und Bürolofts breitet sich ein zentraler Quartiersplatz aus, der Raum für Veranstaltungen und Märkte bietet.
Ein dritter Schwerpunkt für das Gewerbe soll auf dem Henkel-Schwarzkopf-Gelände liegen. Eine Back-to-back-Lösung fungiert dort nochmals als Abschirmung gegen Lärm und verbindet gleichzeitig Wohnen und Arbeiten. Rücken an Rücken entstehen in entkoppelten Gebäuden auf der einen Seite Wohnungen, auf der anderen Seite Gewerbeflächen für Büros, Gastronomie oder Läden. „Auch eine kleine Brauerei oder eine Kaffeerösterei vor Ort wären vorstellbar“, sagt Andreas Seithe, Geschäftsführer der Projektentwicklung bei Otto Wulff.
„Wir schaffen eine Art Modellprojekt für Hamburg, Handwerksbetriebe gehören mitten in die Metropolen“, unterstreicht Conrad. Schon allein aus ökologischen Gründen. Schließlich verkürzen sich damit die Fahrtwege für Kunden und Handwerker, was weniger Verkehrsaufkommen, Lärm und CO2-Ausstoß bedeutet.
Lange verlief die Entwicklung jedoch in eine ganze andere Richtung. Mit dem Wohnungsboom in den Großstädten wurden verstärkt Gewerbe- zu Wohnflächen umgenutzt, die Handwerker verschwanden zusehends aus den Hinterhöfen. Tischler, Glaser, Schlosser und Heizungsbauer wurden mit ihren Betrieben mehr und mehr in die Randgebiete abgedrängt, da sie die immer höheren Mieten nicht mehr aufbringen konnten.
Nachdem die Kolbenschmidt-Werke im Jahr 2009 schlossen, siedelten sich – erst als Zwischenlösung geplant – typische Hinterhofbetriebe auf dem Areal an, darunter auch Tobias Trapp mit seiner Motorradwerkstatt. Er war heilfroh, als er Anfang 2011 auf das Gelände ziehen konnte, nachdem ihm die alten Räume in Ottensen überraschend gekündigt worden waren. Davon, dass er in der Nähe bleiben konnte, profitieren aber auch andere: „Meine Kunden wohnen gleich nebenan, sie möchten nicht bis nach Schleswig-Holstein rausfahren, um ihr Motorrad reparieren zu lassen“, so Trapp. Die Handwerker seien ein entscheidender Baustein der lokalen Ökonomie und wichtig für ein pulsierendes Stadtleben.
Quartier ist Vorbild für das neue „Urbane Gebiet“
Um die Mischung von Wohnen und Gewerbe dauerhaft zu ermöglichen, wandelte der Bezirk das Kolbenschmidt-Gelände als damals teilweises Industriegebiet in Gewerbe-, Misch- und allgemeines Wohngebiet um – das entsprechende Planrecht wurde im Jahr 2014 eingeleitet. Damit liegt die Lärmobergrenze für die Halle bei 65 Dezibel tags und 50 Dezibel nachts. Wobei der maximale Tagwert in etwa dem Geräuschpegel in einer Kantine entspricht. Im Wohn- sowie im Mischgebiet liegt der Schallpegel niedriger.
„Das Projekt diente auch als eine Art Vorbild für das relativ neue urbane Gebiet“, erklärt Conrad, der aktuell allein in der Verwaltung für den Bezirk Altona vier urbane Gebiete vorbereitet. Der junge Baugebietstyp soll für die Stadtplanung neue Handlungsspielräume eröffnen, denn damit kann stärker und flexibler im Mix verdichtet werden als im Mischgebiet, zudem liegen die Lärmgrenzwerte höher.
Zwischen 22 und 6 Uhr herrscht Nachtruhe, „aber die Handwerker machen ja ohnehin meist gegen 19 Uhr Feierabend“, so Trapp, der inzwischen in der sanierten Gewerbehalle arbeitet. Mit ihm sind im März 2019 die anderen 20 Betriebe eingezogen, darunter Tischler, eine Kfz-Werkstatt, der einzige Kunstschmied Hamburgs sowie eine Surf- und Skateboardmanufaktur.
Bei der Einrichtung der Werkstätten zählten auch die Details, um Lärm und Schwingungen der Maschinen gering zu halten. So steht etwa der Lufthammer des Schmieds auf zwei statisch geprüften Entkopplungsschichten, damit er keine Erschütterungen verursacht. „Draußen vor der Halle hört man bei geschlossenen Fenstern fast nichts von unserer Arbeit“, so Trapp. Und die erlaubten Maximalwerte würden ohnehin nicht erreicht.
Handwerker haben sich in Genossenschaft organisiert
Möglich wurde die Handwerkerhalle in bester Lage auch durch ein besonderes Konstrukt: Die Betriebe haben bereits früh eine Genossenschaft gegründet – der Trapp vorsitzt – und die Halle später so gemeinsam gekauft. Mit den Mieten zwischen 5 und 7 Euro pro Quadratmeter und der Förderung weiterer Mitglieder auch aus der Nachbarschaft wird der Kredit von 8,5 Millionen Euro über 20 Jahre abbezahlt. „Wir erfahren hier eine sehr positive Resonanz und viel Unterstützung“, berichtet Trapp.
Wohnungsinteressenten finden die Mischung spannend
Die Vermarktung der Wohnungen scheinen die vermeintlich lauten Nachbarn jedenfalls nicht zu stören. „In Altona wird die Mischung als spannend und urban empfunden, die Nachfrage nach den Wohnungen ist groß“, sagt Burkhard Pawils, Vorstandsvorsitzender der Wohnungsbaugenossenschaft altoba. Monotone Wohnquartiere seien heute ohnehin nicht mehr gefragt. Die Handwerker sowie weitere Gewerbe gleich nebenan bereichern das Viertel und stehen für ein vitales Umfeld.
Diese Entwicklung wird auch an anderen Orten Hamburgs gefördert – ob im einstigen Problemviertel Wilhelmsburg, das durch die Internationale Bauausstellung (IBA) aufgewertet wurde, im Stadtteil Barmbek mit dem Gewerbe- und Handwerkerhof „Built in Barmbek“ oder im Stadtteil Lokstedt mit dem Handwerkerzentrum Meistermeile für rund hundert Betriebe. „Die Stadt treibt entsprechende Projekte voran, sie müssen aber natürlich auch in die Struktur und zur Geschichte der Umgebung passen“, so Pawils. Einfacher sei es ohnehin immer, Gewerbe bei der Planung neuer Quartiere gleich mitzudenken, als es nachträglich zwischen Wohnhäuser zu setzen.
Autos und S-Bahn sind deutlich lauter als Handwerksbetriebe
„Ottensen war lange ein Industriestandort, schon deshalb fügt sich der Gewerbehof sehr gut ein“, findet Otto Wulff-Geschäftsführer Seithe. Ottensen gehöre ja nicht trotz, sondern gerade wegen seiner bunten Mischung zu den beliebtesten Stadtteilen in Hamburg. „Die Kolbenhöfe ziehen zahlreiche Interessenten auf Mieter- und Käuferseite an, die sich diese urbane Lebendigkeit wünschen.“
Die strikte Funktionstrennung, die man nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur in Hamburg beförderte, werde mehr und mehr aufgebrochen. Und auch die Geräusche aus der Werkhalle seien keinesfalls störend, „die S-Bahn, die an der Nordseite des Geländes entlangfährt, oder Hauptverkehrsstraßen sind mit einem Lärmpegel von 70 Dezibel oder mehr weit lauter“. Entsprechend stelle es gar keine so besondere Herausforderung dar, den vorgeschriebenen Schallwerten bei der Bauplanung der Kolbenhöfe mit gut gedämmten Fenstern und verglasten Loggien zu begegnen. Für alle Fälle sollen Mieter und Käufer der Wohnungen aber vertraglich zusichern, dass sie nicht rechtlich gegen die Geräuschkulisse vorgehen. Man weise vertraglich explizit auf alle Gegebenheiten hin. „Ohne gegenseitige Akzeptanz ist solch ein Mix nicht machbar“, weiß Seithe.
Die altoba, die Wohnungen direkt an der S-Bahn-Linie errichtet, muss da schon andere Wege einschlagen. „Wir überlegen, zur Bahn hin die Hafencity-Fenster einzubauen“, berichtet Pawils. Das Fenster wurde eigens für die Realisierung der Hamburger Hafencity konzipiert, es hält auch gekippt störenden Krach draußen. „Zudem werden Grundrisse so gestaltet, dass nur die Funktionsräume wie Küche und Bad zu den Gleisen und dem Gewerbehof ausgerichtet sind“, ergänzt Pawils.
Neue Schallschutz-Techniken verschieben die Grenzen des Machbaren
Dass das engere Zusammenrücken von Wohnen und Gewerbe funktioniert, unterstützen auch anderswo neue Technologien und planerische Kniffe – egal ob ein Rückgewinnungsverfahren der Gardämpfe einer Brauerei, um die Geruchsemissionen niedrig zu halten, oder eben Riegelbauten und das Hafencity-Fenster. „Mit den besseren technischen Möglichkeiten haben sich die Grenzen des Machbaren enorm verschoben“, so Stadtplaner Conrad.
Für ein anderes Projekt in seinem Bezirk etwa setze ein Bauunternehmen das gesamte Gebäude, welches ebenfalls an eine S-Bahn-Strecke grenzt, auf flexible Stahlfedern. Diese gleichen die Erschütterungen der vorbeidonnernden Züge aus. „Es findet sich eigentlich immer eine Lösung, wenn alle Beteiligten es nur wollen.“
In den kommenden Jahren wird der Standort sein Gesicht deutlich verändern. Bis 2025 entsteht hier der nordöstliche Teil des Quartiers Kolbenhöfe. Die aktuelle gewerbliche Nutzung wird durch eine vielfältige Mischung aus Wohnen und Arbeiten in direkter Nachbarschaft abgelöst.
Bettina Brüdgam


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