Noch immer trauern viele Berliner dem Anfang November 2020 geschlossenen Flughafen Tegel nach. Ein Flughafen der kurzen Wege, innenstadtnah, kompakt – so haben sie das 1975 fertiggestellte Verkehrsbauwerk in Erinnerung und verdrängen dabei die Enge im historischen, sechseckigen Flughafengebäude, die stickige Luft in den behelfsmäßig errichteten Zusatzterminals und die regelmäßig überforderten Gepäckbänder. So oder so: Auch ein (rechtlich nicht bindender) Volksentscheid im Jahr 2017, bei dem sich eine Mehrheit der Berliner für einen Weiterbetrieb aussprach, änderte nichts daran, dass der Flughafen Tegel mit Eröffnung des neuen Großflughafens in Schönefeld geschlossen wurde.
Im August dieses Jahres übernahm dann die landeseigene Tegel Projekt GmbH das Areal im Nordwesten der deutschen Hauptstadt. Damit hat offiziell eines der aufregendsten Stadtentwicklungsprojekte Deutschlands begonnen. Denn auf dem rund 500 Hektar großen Areal soll in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ein Stadtteil der Superlative entstehen. Von einem „Schaufenster“ und einer „Experimentierwerkstatt für die mensch- und naturbejahende Stadt der Zukunft“ spricht Philipp Bouteiller, Geschäftsführer der Tegel Projekt GmbH. Und Geschäftsführerin Gudrun Sack ergänzt: „In den nächsten Jahren möchten wir hier eine Benchmark in Sache Nachhaltigkeit und Digitalisierung setzen und viel Neues wagen.“
5.000 Wohnungen im Schumacher Quartier
Das gilt insbesondere auch für den Wohnteil des neuen Viertels. Unter dem Namen Schumacher Quartier sind auf einer 48 Hektar großen Fläche rund 5.000 Wohneinheiten geplant, in denen zukünftig mehr als 10.0000 Menschen leben werden. Das Besondere daran: Der neue Stadtteil soll in Holzbauweise errichtet und so nach Angaben der Tegel Projekt GmbH das weltweit größte Holzbauviertel werden. Entwickelt werden soll es im Rahmen einer Bauhütte 4.0, deren Name sich an die mittelalterlichen Dombauhütten anlehnt. „Abermals“, formulieren es die Verantwortlichen nicht ohne Pathos, „kommen in der Bauhütte 4.0 kluge, kreative Köpfe zusammen, um auf neuen Wegen qualitatives Bauen durch industrielle Fertigung erschwinglich zu machen.“ Ziel ist demnach nicht weniger als ein „internationaler Leuchtturm“, der „durch einen ganzheitlichen Digitalisierungsansatz in Kombination mit innovativer Produktionstechnologie und einer integrativen Wertschöpfungskette aus Berlin heraus die europäische Baukultur nachhaltig beeinflusst“.
Private Projektentwickler bleiben draußen
Während das noch reichlich theoretisch klingt, sind andere konzeptionelle Punkte schon deutlich konkreter. Fest steht beispielsweise, dass bei der Realisierung des Schumacher Quartiers private Projektentwickler weitgehend außen vor bleiben: Die Hälfte der gut 5.000 Wohnungen sollen von landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften (voraussichtlich Degewo, Gesobau und Gewobag) errichtet werden, weitere vierzig Prozent von Genossenschaften und Baugruppen, während die verbleibenden zehn Prozent für studentisches Wohnen reserviert sind.
Dabei werden die Grundstücke nicht verkauft, sondern ausschließlich vermietet oder im Erbbaurecht vergeben.
Nach Angaben von Constanze Döll, der Pressesprecherin der Tegel Projekt GmbH, werden die betreffenden Grundstücke des ersten Bauabschnitts voraussichtlich im kommenden Jahr an die Wohnungsbaugesellschaften übertragen werden. Die Vergabe derjenigen Grundstücke, die für Genossenschaften und Baugruppen vorgesehen sind, beginnt ebenfalls im ersten Quartal 2022. Dabei wendet die Tegel Projekt GmbH ein Konzeptverfahren an, dessen Kriterien derzeit noch abgestimmt werden. Eine entscheidende Rolle, sagt Döll, werde dabei auf jeden Fall die Qualität des Nutzungs- und Gestaltungskonzepts spielen.
Fehler früherer Großwohnsiedlungen vermeiden
Doch entsteht nicht trotzdem eine Großsiedlung mit allen Problemen, die man in solchen Vierteln aus den 1960er- und 1970er-Jahren kennt? Das wollen die Verantwortlichen durch mehrere Maßnahmen verhindern. So planen sie beispielsweise eine Mischung unterschiedlicher Wohnformen, bei denen allerdings öffentlich geförderte Wohnungen mit 35 bis 40 Prozent einen großen Anteil haben werden. Außerdem soll das Schumacher Quartier kein reines Wohnviertel sein, sondern als Stadt der kurzen Wege auch Flächen für Einzelhandel, Dienstleistungen und nicht störendes Gewerbe bereithalten. Geplant sind ferner ein Bildungscampus mit zwei Schulen sowie sechs Kindertagesstätten.
Innovativ ist auch das Mobilitätskonzept, mit dem es die Tegel Projekt GmbH unter die drei Finalisten im Bereich „Neue Mobilität“ des Deutschen Ingenieurpreises Straße und Verkehr 2021 schaffte. Ein zentraler Baustein des Konzepts sind sogenannte Mobility Hubs an den Rändern des Quartiers, an denen unterschiedliche Verkehrsmittel gebündelt und Autostellplätze angeboten werden. Aber auch Dienstleistungen von der Paketstation bis zur Reparaturwerkstatt sollen in diesen Hubs zur Verfügung stehen. Innerhalb des Quartiers soll die Mobilität hauptsächlich durch Fahrräder und ein Mikrobus-System sichergestellt werden. Ein umfassendes Carsharing-System soll es darüber hinaus ermöglichen, dass die Bewohner nicht auf ein eigenes Auto angewiesen sind.
Auch sonst wird im neuen Stadtteil Nachhaltigkeit groß geschrieben. Geplant ist zum Beispiel, das Schwammstadt-Konzept umzusetzen und so das Quartier gegen extreme Wetterereignisse widerstandsfähig zu machen. Dazu beitragen sollen unter anderem Dächer mit Retentionsfunktion (Rückhaltung von Regenwasser), Muldenversickerung und Verdunstungsflächen.
Innovatives Gewerbe in der Urban Tech Republic
Einen Schwachpunkt kann die verantwortliche Entwicklungsgesellschaft allerdings nicht im Alleingang bewältigen: Es fehlt ein Abzweig der U-Bahn vom Kurt-Schumacher-Platz aus. Daran wird sich voraussichtlich auch nichts ändern, da die Berliner Senatsverwaltung für Verkehr eine (erst noch zu schaffende) Straßenbahnanbindung des einstigen Flughafengeländes für ausreichend hält – ungeachtet der Tatsache, dass dort nicht nur Wohnungen entstehen, sondern auch Gewerbeflächen in ganz großem Stil. Für diesen Gewerbepark haben sich die Verantwortlichen den Namen Berlin TXL – The Urban Tech Republic einfallen lassen. Wobei sie den Begriff „Gewerbepark“ entrüstet zurückweisen würden – nach ihren Worten handelt es sich nämlich um einen „kuratierten Innovationspark“ und eine „Community für urbane Technologien“. Das bedeutet, dass auf dem insgesamt 211 Hektar großen Areal hauptsächlich solche Unternehmen willkommen sind, die sich mit einem von sechs Kernthemen befassen: klimaneutrale Energiesysteme, umweltschonende Mobilität, sauberes Wasser, Recycling, Einsatz neuer Materialien im Bau und vernetzte Steuerung von Systemen.
Im Blick haben die Projektentwickler dabei nicht nur internetorientierte Start-ups, sondern auch klassische Industriebetriebe. Für letztere sind 82 Hektar reserviert, sodass in Tegel die größte zusammenhängende innerstädtische Industriefläche Berlins entstehen soll. Gespräche mit potenziellen Nutzern führt die Tegel Projekt GmbH nach eigenen Angaben bereits. Damit die künftigen Bewohner des benachbarten Schumacher Quartiers nicht unter Industrielärm leiden, sind der Gewerbe- und der Wohnteil durch einen Landschaftspark voneinander getrennt.
Teil der Urban Tech Republic sind außerdem wissenschaftliche Einrichtungen, die sich ebenfalls mit den Kernthemen befassen. So wird die Beuth-Hochschule für Technik das historische Terminalgebäude nutzen. In weiteren Bestandsgebäuden nimmt zudem die Berliner Feuerwehr- und Rettungsdienste-Akademie Quartier.
Erste Bauabschnitte 2027 fertiggestellt
Um welch Riesenprojekt es sich insgesamt handelt, verdeutlichen einige Zahlen. Die Tegel Projekt GmbH rechnet mit einem Investitionsvolumen von rund acht Milliarden Euro, wobei der überwiegende Teil aus privaten Investitionen bestehen wird. Der Zeithorizont bis zum Abschluss der Entwicklungsmaßnahme reicht bis zum Jahr 2040. Erste Bauabschnitte sollen allerdings bereits im Jahr 2027 abgeschlossen sein. Dann werden den Plänen zufolge unter anderem der Bildungscampus, der zentrale Quartierspark und die ersten Wohnhäuser fertig sein, und auch rund 2.500 Studierende der Beuth-Hochschule werden in Tegel ihre Lehrveranstaltungen besuchen.
Dass sich die Fertigstellung des neuen Großflughafens und damit die Schließung von Tegel gegenüber den ursprünglichen Plänen um Jahre verzögert haben, sieht Philipp Bouteiller von der Tegel Projekt GmbH übrigens als Vorteil. „Als man sich 2008 erste Gedanken über die Nachnutzung des Flughafens Tegel machte, fragte man sich, was man mit dieser riesigen Fläche Kluges anfangen sollte“, blickt er zurück. „Dann wurde klar: Berlin wächst rapide und hat in Tegel eine wertvolle Flächenreserve mitten in der Stadt, die auch für die Nutzung grüner Zukunftsindustrien geeignet ist.“ Doch ist das jetzt gefundene Konzept flexibel genug, um neuen Anforderungen gerecht zu werden, die sich in den nächsten Jahrzehnten stellen werden? Ja, ist Bouteiller überzeugt: „Unser Konzept lässt Raum für zukünftige Entwicklungen.“
Siemensstadt und Neues Gartenfeld:Die Nachbarn von Tegel
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