Aufzugsprojekt

Ein steiniger Weg zur Barrierefreiheit

Deutschland, deine Nachbarn; Deutschland, deine Bürokratie! Rund acht Jahre lang musste eine Miteigentümergemeinschaft in Berlin-Friedenau um den barrierefreien Zugang zu den Wohnungen in ihrem Gründerzeithaus kämpfen. Jetzt erlauben ein Aufzug und Erschließungsstege im Innenhof das selbstbestimmte Wohnen bis ins hohe Alter.
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Hallo Nachbarin: Die Verbindung der Wohnungen über die Galerie hat die Hausbewohner näher zusammenrücken lassen. Bild: Engelbrecht/HUSS-MEDIEN
Hallo Nachbarin: Die Verbindung der Wohnungen über die Galerie hat die Hausbewohner näher zusammenrücken lassen. Bild: Engelbrecht/HUSS-MEDIEN

Ortstermin im Berliner Stadtteil Friedenau. Ein gutbürgerliches Viertel im alten Westteil der Stadt. Die Straßen im Schatten mächtiger Baumkronen, begrenzt von herausgeputzten Gründerzeitfassaden. Gediegenheit und Gemütlichkeit stellen sich ein und der Gedanke, ach ja, hier möchte man wohnen. Ein Quartier, das Lebensmittelpunkt, das Heimat sein will. Ein Ort für Leben und Wohnen in bewusster Gemeinschaft ist das 1892 erbaute Haus Handjerystraße 94. Das Gebäude gehört einer Miteigentümergemeinschaft, die zwölf Parteien umfasst. Man ist organisiert in der Replaus GbR, Geschäftsführer ist Wolfgang Zeyns. Die Gemeinschaft, so berichtet Zeyns, verbindet eine lange Geschichte. Das Bindemittel ist der Wunsch nach selbstbestimmtem Wohnen und nach einer Hausgemeinschaft, auf die man zählen kann. Die Wurzeln der Gemeinschaft reichen bis in die späten 1970er-Jahre zurück, in die Zeit der Westberliner Hausbesetzungen. Die Gründungsmitglieder der Replaus GbR lebten damals in einer Wohngemeinschaft, waren bereits berufstätig und strebten in der damaligen Häuserkampf-Atmosphäre nach einer legalen Eigentumsform. Selber planen und selber machen war ihr Antrieb, was auch im selbstironischen Namen der im Jahr 1979 gegründeten GbR zum Ausdruck kommt. Replaus steht für „REnovierungPLanungAUSbau“.

Die Gemeinschaft erwarb 1978 einen „hoffnungslosen Fall“

Die „Replaus-Hausels“, wie sich die GbR-Mitglieder selbst bezeichnen, entschieden sich zum Kauf des Gebäudes Handjerystraße 94, obwohl es, wie Wolfgang Zeyns erzählt, in einem „ruinösen Zustand“ war. Von oben bis unten durchfeuchtet, vom Schwamm befallen. In einer Festschrift zum 100-jährigen Geburtstag des Hauses heißt es: „Notdach; die Fensterhöhlen des vierten Geschosses teilweise vernagelt, weil der zentrale Teil dieser Etage nicht begehbar war: keine Fußböden und Zimmerdecken. Bei starken Regenfällen sammelte sich in den Kellern das Wasser und stand auch schon mal bis Schulterhöhe.“ Ein hoffnungsloser Fall, möchte man meinen. Doch die junge Miteigentümergemeinschaft kämpfte mit ihrem Idealismus und mit ihrer Idee von einer aktiven Hausgemeinschaft gegen den Verfall historischer Bausubstanz. Sehr viel wurde in Eigenleistung gemacht, die Renovierungsarbeiten zogen sich bis ins Jahr 1986. Nach der Trockenlegung des Gebäudes wurden die meisten Balkone erneuert, die gesamte Fassade mit ihren Stuckelementen rekonstruiert, defekte Fenster ersetzt. Alle Leitungen wurden neu verlegt, eine Heizung eingebaut.

Großzügige Gemeinschaftsflächen für Tanz, Kunst und Feste

Das Motiv von einem Leben in aktiver Gemeinschaft spiegelt sich in den Nutzungsformen des Gebäudes. Neben dem Bereich der Sondernutzung (Wohnungen) gibt es im Haus zu einem Drittel gemeinschaftlich genutzte Flächen, das sind das gesamte Parterre inklusive einer ehemaligen Remise, das gesamte Dachgeschoss und eine große begrünte Dachterrasse. Das Erdgeschoss beherbergt einen von der Hausgemeinschaft gegründeten Kinderladen sowie, in der Vergangenheit, viele Jahre lang eine Galerie, die nicht kommerzielle Kunstkammer Friedenau. Inzwischen befindet sich in den Räumlichkeiten der Galerie die physiotherapeutische Praxis eines Hausbewohners. Der Gemeinschaftsraum im Dachgeschoss bietet Platz für Feste und Familienfeiern und ist Treffpunkt von Tanz- und Zeichengruppen von Bewohnern und ihren Gästen.

Das Haus in der Handjerystraße blieb über die Jahrzehnte seit 1980 die Heimat einer aktiven, kommunikativen Hausgemeinschaft. Bei 12 Wohnparteien gehören acht zu den Gründungsmitgliedern, die damals die Schaufel selbst in die Hand nahmen. Man hat Interesse aneinander, nimmt Anteil am Leben der anderen – und wird gemeinsam alt. „Der Impuls, sich mit dem Thema Barrierefreiheit zu befassen“, erzählt Wolfgang Zeyns, „war gesetzt, als Miteigentümer erschreckt feststellten: Meine Eltern können mich nicht mehr besuchen, denn das Treppensteigen fällt ihnen schwer.“ Diese Erkenntnis führte, ganz basisdemokratisch, in der Hausgemeinschaft Anfang 2011 zur Gründung einer Arbeitsgruppe „Perspektiven im Alter“. Konstruktiv-technisch gesehen lautete die Aufgabe: Wie lassen sich zwölf Wohnungen und Gemeinschaftseinrichtungen in vier Obergeschossen sowie dem Dachgeschoss barrierefrei erschließen? Das Gebäude hat zwei Treppenaufgänge, der Innenhof ist jedoch zu eng für den äußeren Anbau von zwei Aufzugstürmen.

Die Idee: Ein Turm trägt Galeriestege

2012 entwickelte der Architekt Heinrich Burchard die Idee, nur einen Aufzugsturm zu errichten, der mit durchgehenden Galeriestegen verbunden wird, über die sämtliche Wohnungen erschlossen werden. Im Herbst 2012 fanden erste Gespräch mit dem Stadtplanungsamt statt, erinnert sich Replaus-Geschäftsführer Zeyns. Aufgrund einer schweren Erkrankung gab Architekt Burchard das Projekt an Wolfgang Göschel und Thomas Trabert vom Architektenbüro Spreewaldplatz ab. Ihnen sollte die Aufgabe zufallen, das Projekt „Barrierefreiheit“ über Jahre gegen Widerstände der Nachbarn und bürokratische Hindernisse durchzuboxen. In der Rückschau fasst Architekt Thomas Trabert die Zeit bis zur Inbetriebnahme des Aufzugs im Mai 2019 so zusammen: „Es besteht eine Riesendiskrepanz zwischen dem allgemein anerkannten Postulat vom altersgerechten Wohnen und der Ablehnung in der Praxis.“

Die Miteigentümergemeinschaft hat insgesamt vier unterschiedliche Bauanträge mit dem Ziel „barrierefreie Zugänge in die Wohnungen über Stege“ gestellt. Der erste Antrag wurde aus „grundsätzlichen städtebaulichen Gründen“ abgelehnt. Das Stadtbauamt habe keinen Präzedenzfall schaffen wollen. „Diese Ablehnung blieb diffus“, urteilt Architekt Thomas Trabert. Im Berliner Stadtteil Friedenau macht eine Erhaltungsverordnung von 1986 zum Schutz des Stadtbildes bauliche Veränderungen äußerst schwierig. Als ebenso unverrückbares Hindernis stand über Jahre die sogenannte Abstandregelung in der Berliner Landesbauordnung im Weg. Ein Aufzugsturm, der fünf Stockwerke verbindet, errichtet in einem engen Innenhof, war nur genehmigungsfähig mit der 100-prozentigen Zustimmung der Nachbarn. Ein hoffnungsloses Unterfangen. In den zahlreichen Gesprächen über vier Bauanträge auf unterschiedlichen Ebenen der Baubehörden fanden Bauherren und Architekten durchaus auch Unterstützer. Im langen und aussichtslosen Streit mit den Nachbarn gaben die Wohlwollenden in der Bauverwaltung irgendwann den Tipp, sich in Geduld zu üben und auf die Novelle der Berliner Bauordnung zum 1. Januar 2017 zu warten. Die neue Bauordnung würde den Anbau von Aufzügen zu einer privilegierten Maßnahme erklären, die ohne Zustimmung der Nachbarn zu realisieren sei. Im Mai 2017 kam endlich der zustimmende Bescheid vom Bauamt. Die laufende Klage eines Nachbarn beim Verwaltungsgericht war damit hinfällig.

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Aufzug und Galerie sind kostengünstiger als der Lebensabend im Heim

Nach rund sechs Jahren der Planung und des Wartens rückten nun Bau und Finanzierung in den Vordergrund. Die Baukosten beliefen sich auf rund 450.000 Euro. Darin eingeschlossen Mehrkosten von 70.000 Euro durch die Vorgabe der Baubehörde, den Aufzugsturm unmittelbar an die Hauswand anzuschließen. Der Plan der Architekten sah eigentlich vor, den Turm mit 1,50 Meter Abstand zur Hauswand aufzustellen. Der von der Baubehörde vorgeschriebene direkte Anbau machte die Verlegung von Abwasserrohren erforderlich, was einen großen Teil der Mehrkosten verursachte. Die hohe Investition hat die Hausgemeinschaft ohne Darlehen aufbringen müssen. „Die staatliche KfW-Bank kennt den Begriff der Miteigentümergemeinschaft nicht, daher waren wir nicht kreditwürdig“, erzählt Wolfgang Zeyns. Also mussten die „Replaus-Hausels“ erneut intensiv diskutieren und spitz rechnen. Der Finanzierungsanteil je Eigentümer richtet sich nach dem Wohnflächenanteil. Wolfgang Zeyns Kostenanteil betrug 44.000 Euro. Dieser Batzen erschien tragbarer im Licht der Kosten für ein Leben im Seniorenheim. Dafür setzte Zeyns monatlich 1.500 Euro ohne Pflegeleistungen an. Nach knapp zweieinhalb Jahren im Heim wäre sein Investitionskostenanteil für den Aufzug erreicht.

Auch nach Erteilung der hart erkämpften und lang ersehnten Baugenehmigung im Mai 2017 musste die Hausgemeinschaft sich in Geduld üben, denn auch die Bauarbeiten waren langwierig. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Gewerke, so erinnert sich Wolfgang Zeyns, sei holprig gewesen. Insbesondere habe es Abstimmungsprobleme und Reibungsverluste zwischen Aufzugshersteller und der Stahlbaufirma gegeben, die die Galeriestege montierte.

Die Kombination aus Aufzugsturm und Galeriestegen will noch erklärt sein. Die Aufzugskabine öffnet sich in jeder Etage zu zwei Seiten; damit entsteht ein Durchgang auf jedem Galeriesteg, der die Wohnungen auf jeder Etage verbindet. Die Konstruktion schafft den barrierefreien Zugang in jede Wohnung durch neue Fenstertüren in den Küchen. Auf diese Weise konnte der Aufzugshalt „auf halber Treppe“ vermieden werden.

Auf den „Laufstegen“ bewegen sich die Leute aus der Hausgemeinschaft gern. Wolfgang Zeyns beobachtet einen verstärkten Austausch zwischen den beiden Treppenhäusern. Die Galeriestege sind 1,50 Meter breit, damit sich auch Rollstuhlfahrer bewegen können. Man entschied sich für die Montage von Gitterosten, damit die Fassade nicht verschattet wird. Aufzug und Galeriewege sind jetzt seit anderthalb Jahren in Betrieb. Die Konstruktionsidee stellt sicher, dass die bewährte Hausgemeinschaft mehr als ein halbes Jahrhundert überdauern wird. Thomas Engelbrecht

Aufzugsanlage: Perelsplatz 10/Handjerystraße 94, 12159 Berlin-Friedenau

Konstruktion: gläserner Aufzugsturm mit Wohnungserschließungsstegen (Stahl) im Innenhof

Barrierefreie Erschließung von 11 Wohnungen und Gemeinschaftseinrichtungen in 4 Obergeschossen und Dachgeschoss.

Haltestellen jeweils auf Etagenhöhe mit Fenstertüren zur Küche

Kabinengröße: 1,25 × 1,20 m, rollstuhlgerecht, entspricht Typ 1, DIN EN 81-70

Aufzugstechnik: Seilaufzug

Planung: Architekten Spreewaldplatz, Wolfgang Göschel und Thomas Trabert

Thomas Engelbrecht

Thomas Engelbrecht
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Artikel Ein steiniger Weg zur Barrierefreiheit
Seite 14 bis 16
4.10.2023
Miet-Recht | Hausgemeinschaft
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