Die Mischung macht‘s
Manchmal muss man der Zeit einen Schritt voraus sein. Zwei Jahre bevor die neue Kategorie „Urbanes Gebiet“ offiziell in der Baunutzungsordnung festgeschrieben war, orientierte sich die städtische Entwicklungsgesellschaft IBA Hamburg bereits für neue Quartiere auf der Elbinsel Wilhelmsburg an den diskutierten Standards.
„Wir wussten, dass wir die Vorteile unbedingt nutzen möchten und es war schon weit vorher absehbar, dass das Urbane Gebiet kommen wird“, erklärt Christian Hinz, Projektkoordinator der IBA Hamburg.
Auch wenn Beispiele derzeit noch rar sind, klar ist längst: Das im Jahr 2017 eingeführte „Urbane Gebiet“ eröffnet Chancen für den Wohnungsbau sowie mehr Gewerbeflächen in zentralen Lagen – und das mit neuen Ansätzen und einem engen Miteinander. „Das Urbane Gebiet findet immer häufiger Anwendung in der Praxis, um eine flexiblere Gestaltung zu ermöglichen“, berichtet Anke Hunold, stellvertretende Pressesprecherin der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen. Zu einer gemeinwohlorientierten, vielfältigen und ausgewogenen Stadtentwicklung gehöre die Stärkung der Produktion in den Zentren – so die inzwischen gängige Linie. „Nun sammeln wir erste Erfahrungen in der konkreten Umsetzung.“
Zur Stadtentwicklung gehört die Stärkung der Produktion in den Zentren
Besonders ausgiebig derzeit im Süden Hamburgs, in Wilhelmsburg. Hier werden mit der Überplanung verschiedener Flächen gleich mehrere Urbane Gebiete ausgewiesen. Vor allem für das industriell geprägte Elbinselquartier, eingerahmt von drei Kanälen, spielt der Typus mit gut einem Drittel der Gesamtfläche eine große Rolle. Das 47 Hektar große Viertel gehört zu einer Achse aus drei Quartieren, die durch die Verlegung der vierspurigen Wilhelmsburger Reichsstraße neue Flächen gewinnen und im großen Stil überarbeitet werden. Wo sich zuvor Lkw und Lieferfahrzeuge entlangschoben und graue Gewerberiegel die Straßen säumten, sollen quirlige Viertel mit Wohnungen, Gewerbe, Schulen, Kitas, Sportanlagen, Parks und Kleingartenanlagen wachsen. Als kaum überwindbare Barriere trennte die breite Verkehrsader lange Wohnen und Industrie. „An dieser Stelle möchten wir jetzt einen Übergang schaffen, um die verschiedenen Nutzungen zu vereinen und zu ergänzen“, umreißt Projektkoordinator Hinz von der IBA Hamburg. Die harten Schnittkanten von einst sollen sich auflösen.
Neuplanungen werden mit jahrzehntealten Strukturen verwoben
Für die Achse in Wilhelmsburg mit Spreehafenviertel, dem Elbinselquartier und dem Wilhelmsburger Rathausviertel geht es zudem darum, die Neuplanungen in die über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen aus Industrie, Speditionen, Handwerksbetrieben und Handelsfirmen einzubetten. Insgesamt sollen auf den städtischen und privaten Grundstücken in den nächsten Jahren gut 5.500 neue Wohnungen und 220.000 Quadratmeter Bruttogrundfläche für Gewerbe neben den bereits vorhandenen Betrieben und Wohnungen entstehen. Allein im Elbinselquartier werden mindestens 2.600 neue Wohnungen gebaut, dazwischen sind gut 100.000 Quadratmeter Bruttogrundfläche für Unternehmen vorgesehen. Dabei sollen Arbeiten und Wohnen, wo irgend möglich, zusammenwachsen. „Die Einführung der Kategorie Urbanes Gebiet in der Baunutzungsverordnung ist ein großer Gewinn für die Steuerungsmöglichkeit der Städte und ihre Entwicklung“, sagt Hunold von der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen. Der Gebietstypus erlaube die passgenaue anteilige Zusammensetzung von Gewerbe- und Wohnnutzung innerhalb eines Baugebietes. „Dank der erweiterten Klaviatur lassen sich die Flächen mit einem lebendigen Nutzungsmix bespielen und gleichzeitig der Wohnungsbau voranbringen“, ergänzt Hinz von der IBA Hamburg. Der neue Typus erlaubt schließlich, einen hohen Anteil des Grundstücks zu bebauen, genauer: 80 Prozent. Die zulässige Geschossflächenzahl, also das Verhältnis der Fläche der Geschosse zur Fläche des Grundstücks, wiederum liegt bei 3,0 – und ermöglicht eine intensivere Verdichtung als etwa ein Mischgebiet. So werden vor allem Fünf- und Sechsgeschosser mit einzelnen Hochpunkten das Elbinselquartier prägen. Auch die Lärmwerte können im Vergleich zu Mischgebieten höher ausfallen. Am Tag ist in den urbanen Gebieten ein Pegel bis zu 63 dB(A) erlaubt, was den Vorgaben für das Gewerbegebiet nahekommt, für die Nacht liegt der Höchstwert bei 45 dB(A). Im Mischgebiet bewegen sich die maximalen Immissionswerte hingegen tagsüber bei drei dB(A) darunter. „Damit können wir im Elbinselquartier mit den Wohnungen näher an das Gewerbe- und das Industriegebiet gehen und eine größere Fläche mit Wohnraum belegen“, so Hinz.
Die Stadt der kurzen Wege soll realisiert werden
Auf den privaten Flächen im Elbinselquartier breitet sich dort, wo die Urbanen Gebiete entstehen sollen, teils noch Industrie und Gewerbe aus. „Wir möchten Wilhelmsburg nicht zum Hochglanzstadtteil polieren, sondern den ganz eigenen Charakter flankieren, Gewerbe gehört einfach zu Wilhelmsburg “, so Hinz. Bei der Entwicklung gehe es auch darum, Industrie und Gewerbe zu halten; die umtriebige Atmosphäre und den etwas raueren Charme mit neuen Betrieben zwischen den Wohnhäusern fortzuschreiben. Die Stadt der kurzen Wege soll hier Realität werden. Unter Umständen werden dabei auch einige kleine Industrie- oder Gewerbegebiete wie Inseln in den überplanten urbanen Gebieten verbleiben. Hier sitzen unter anderem Stahlbauer und Speditionen, die für ihren Betrieb eine entsprechende Gebietskategorie benötigen. „Wir können aber sehr anpassungsfähig agieren und ziehen das Wohnen dann an neuralgischen Punkten raus“, so Hinz.
Die neuen Urbanen Gebiete laufen im Osten des Elbinselquartiers in Gewerbegebiete über, an die ein langgezogener Abschnitt mit Industriegebieten anschließt. Hier arbeiten etwa Speditionen, Chemikalienhandel, Bauzaunhersteller und Gerüstbauer ohnehin weiter wie bisher. „Die Staffelung der Gebietskategorien hilft, die vorgeschriebenen Lärmwerte in den urbanen Gebieten einzuhalten“, erklärt Hinz. Die neuen Anwohner müssten später dann allerdings mehr Lärm hinnehmen als in anderen Gebieten. Der Geräuschpegel vor Ort sei aber durchaus zumutbar.
Handwerk und Produktion gleich nebenan
Die Wohnbebauung soll dicht an das bestehende Gewerbegebiet rücken. „Eine echte Verbindung wird erst mit dem Urbanen Gebiet machbar“, so Hinz. Zuvor musste man sich in vergleichbaren Situationen mit sperrigen Schallschutzmaßnahmen behelfen. Anderswo sehe man beispielsweise Doppelfassaden, wobei großflächige Glaswände, die die Geräusche abschirmen, etwa 50 Zentimeter vor den Wohnhäusern stehen. „Solch eine Lösung schafft natürlich eine deutliche Trennung, vor allem wenn lange Riegel auf diese Weise gestaltet werden“, so Hinz. Und hinter einer verglasten Mauer zu leben, möchten wohl ohnehin die Wenigsten. Auch eine sogenannte Back-to-back-Bebauung, bei der auf der einen Seite Wohnungen und auf der anderen Seite Gastronomie oder Handwerkshöfe Rückwand an Rückwand stehen, komme für das Elbinselquartier nicht infrage. Ein buntes Miteinander, welches ja auch die viel beschworene Urbanität erzeuge, ließe sich so einfach nicht erreichen, ist sich Hinz sicher.
Liegen die Wohnungen gleich am Gewerbegebiet, werden in den Grundrissen Funktionsräume wie Küche und Bad eher in Richtung Gewerbe gesetzt, Schlaf- und Wohnzimmer dagegen auf die ruhigere Seite. „Denkbar sind an einigen Stellen aber höhere Riegel mit Gewerbe, um den Lärm abzublocken“, erläutert Hinz. Zudem wird das sogenannte Hafencity-Fenster flächendeckend eingesetzt, das vor allem den nächtlichen Geräuschpegel abhalten soll – sowohl der Speditionen und der Produktion nebenan als auch vom Hafen, der auf der anderen Elbseite liegt. Das Fenster wurde für die Erschließung der Hamburger Hafencity entwickelt und hält den Krach auch dann draußen, wenn es auf Kipp steht.
„Wo unsere Maßnahmen nicht ausreichen, nehmen wir punktuell das Wohnen heraus, und setzen als Puffer eher leisere Gewerbebetriebe dazwischen“, so Hinz. Das Urbane Gebiet eröffne ja genau diese Flexibilität, auch weil die Nutzungsmischung nicht gleichgewichtig sein muss. Die Lärmemissionen vor Ort seien bereits flächendeckend bewertet worden, die Ergebnisse dienen als Grundlage für das laufende Bebauungsplanverfahren – eine Feinsteuerung der Details erfolge aber weiterhin.
Die Einschränkung lautet „nicht wesentlich störendes Gewerbe“
In den Urbanen Gebieten selbst soll sich vor allem mit dem Wohnen verträgliches Gewerbe ansiedeln, dazu gehören für das Elbinselquartier insbesondere Handwerksbetriebe, aber auch Kreativwirtschaft. Die Baunutzungsverordnung schreibt lediglich „nicht wesentlich störendes Gewerbe“ vor und eröffnet damit einen großen Spielraum. Als Vorbild dienen die zwei mehrgeschossigen Gebäuderiegel Puhsthof Jaffe 12, die vor gut sechs Jahren in dem bereits damals vom Strukturwandel geprägten Industriegebiet errichtet wurden. Mit einer Cortenstahlfassade greift der am Kanal gelegene Gewerbehof das industrielle Flair der Umgebung auf. Auf den gut 7.000 Quadratmetern verteilen sich Hallen, flexible Büros, Gewerbeateliers, Produktions- sowie Serviceflächen. Bezogen habe diese etwa ein kleiner Dufthersteller, ein Stahl- und Rohrleitungsbauer, ein Entwickler für Exsoskelette, Transportfirmen sowie ein Restaurant mit Blick auf den Elbkanal.
„Alles, was intensiv Gerüche, Geräusche, Wärme oder Licht emittiert, vielleicht auch noch nachts, eignet sich nicht“, so Hinz. Logistikbetriebe, die rund um die Uhr arbeiten, eine Lackiererei, ein Tischler, bei dem den ganzen Tag die Kreissäge rotiert, oder ein Chemiebetrieb, der mit Gefahrenstoffen operiert – solche Firmen passen nicht neben Wohnhäuser. „Es ist aber immer auch eine Einzelfallbetrachtung“, betont Hinz. Schließlich sei es schwierig, etwa Gewerke nach einer eindeutigen Störungsintensität zu kategorisieren, weil letztendlich auch die Größe und die konkrete Arbeitsweise den entscheidenden Unterschied ausmachen können. So gelte es beispielsweise zu prüfen, an welcher Stelle Türen und Tore geöffnet sind, ob besondere Lärmschutzmaßnahen greifen oder innovative leisere Technik eingesetzt wird und wie sich die Immissionen konkret in der Umgebung ausbreiten.
Die feinkörnige Mischung prägt das Quartier
„Ein Wohnblock mit Handwerkern im Innenhof ist durchaus gewollt“, betont Hinz. Während die oberen Etagen der Neubauten eher für Wohnungen gedacht sein sollen, bleibe das Erdgeschoss in der Regel dem Gewerbe vorbehalten. In diesem Fall bedeutet das für die Anwohner aber nicht nur, den Supermarkt, den Bäcker oder das Café als Nachbarn zu haben, sondern genauso den Elektriker, die Fahrradmanufaktur oder den Installateur.
Daneben rücken immer wieder kleinere Gewerbe- oder Handwerkerhöfe ins Bild. Um weitere Verbindungen zu schaffen, sollen sogenannte Kontaktzonen vor den Gewerbeeinheiten so weit wie möglich offen gestaltet sein, also funktional und optisch verbunden werden, etwa mit durchgängigen Belägen bis zur Fassade, einheitlichen Sitzgelegenheiten und Pflanztrögen. Solche Flächen ließen sich dann genauso von Beschäftigten für die Mittagspause nutzen wie von den Anwohnern. „Schilder mit der Aufschrift `Betriebsgelände´ oder `Betreten verboten´ soll es hingegen nicht geben und auch keine unwirtlichen Einfriedungen“, so Hinz.
Bettina Brüdgam
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