Spannungen in Quartieren nehmen zu
Seit 25 Jahren würdigt der Wettbewerb „Preis Soziale Stadt“ Initiativen, die sich für gesellschaftlichen Zusammenhalt und ein lebendiges Miteinander in Stadtquartieren einsetzen. Auch in diesem Jahr zeigt sich nach Ansicht der Organisatoren: Die Komplexität städtischer Herausforderungen lasse sich am besten gemeinsam, vor Ort und mit innovativen Ansätzen bewältigen.
Der Wettbewerb ist eine Gemeinschaftsinitiative des AWO Bundesverbands, des Deutschen Städtetags, des Spitzenverbands der Wohnungswirtschaft GdW, des Deutschen Mieterbundes sowie des vhw Bundesverbands für Wohnen und Stadtentwicklung. Im Mittelpunkt des Wettbewerbs stehen Projekte kommunaler Institutionen, Wohnungsunternehmen, Wohlfahrtsverbände und zivilgesellschaftlicher Organisationen, die mit integrativen und innovativen Ansätzen für mehr Lebensqualität in Quartieren sorgen.
Wohnquartiere stehen unter massivem sozial Druck
Wie massiv die sozialen und gesellschaftlichen Probleme und Brüche sind, denen sich diese Initiativen gegenübersehen, beschrieb Prof. Torsten Bölting, Geschäftsführer des InWIS-Instituts. Immer mehr Wohnquartiere in Deutschland stünden unter massivem sozialen Druck. Die neue InWIS-Studie „Überforderte Quartiere. Engagement – Auswege – Lösungen“ zeige auf, dass sich gesellschaftliche Herausforderungen wie Armut, Migration, Wohnungsmangel, Überalterung und Einsamkeit in bestimmten Stadtteilen bündeln – mit zunehmend dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Studie wurde im Auftrag des Spitzenverbandes der Wohnungswirtschaft GdW erstellt.
Überdurchschnittlich viele Empfänger von Sozialleistungen
Laut InWIS-Erkenntnissen zeige sich die Überforderung einer zunehmenden Zahl von Wohnquartieren in Zahlen: 227 Stadtteile seien aktuell im Programm „Sozialer Zusammenhalt“ gefördert – doch mindestens 345 weitere zeigten ebenso kritische soziale Indikatoren, erhielten aber keinerlei Förderung. In vielen Großwohnsiedlungen leben überdurchschnittlich viele Empfänger von staatlichen Transferleistungen, was zu einer Schrumpfung des Einzelhandelsangebots, zur Bildungssegregation und einem „Milieu der Ärmlichkeit“ führt. Auch die Altersstruktur vieler Quartiere habe sich in den vergangenen Jahren verändert: Der Anteil der über 65-Jährigen liege in manchen Vierteln bereits bei über 30 Prozent, Tendenz steigend.
Wohnungswirtschaft allein kann Probleme nicht lösen
„Unsere Analyse zeigt, dass wir es nicht mehr nur mit überforderten Nachbarschaften, sondern mit ganzen überforderten Quartieren zu tun haben“, erklärte Studienautor Torsten Bölting. „Diese Quartiere sind geprägt von einer Kumulation sozialer Probleme – von Kinder- und Altersarmut über Bildungsmisere bis hin zu Migration und Einsamkeit. Die Wohnungswirtschaft allein kann diese Probleme nicht lösen, obwohl sie vielerorts zentrale Integrationsarbeit leistet. Politik und Gesellschaft müssen jetzt strukturelle Antworten liefern – nicht irgendwann, sondern sofort.“
Die Studie verdeutliche zudem, dass viele Kommunen strukturell überfordert sind. Es fehlten nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch das Personal und die Kompetenzen, um die komplexen Herausforderungen in den Quartieren aktiv zu managen. Klassische Förderprogramme reichten nicht aus, um der Lage Herr zu werden. Vielmehr brauche es integrierte, langfristige Lösungen.
GdW schlägt Kompetenzstelle auf Bundesebene vor
Axel Gedaschko, Präsident des GdW, bestätigt die Forschungsbefunde, sie deckten sich mit den Quartierserfahrungen der Mitgliedsunternehmen. „Was unsere Wohnungsunternehmen melden, ist beunruhigend: Die Spannungen in den Quartieren nehmen zu, die Bereitschaft zur Integration nimmt ab. Und viele Kommunen sind längst an der Belastungsgrenze. Deshalb müssen jetzt Strukturen aufgebrochen, Ressourcen gebündelt und Kompetenzen verlagert werden.“ Er betont weiter: „Deutschland braucht eine zentrale Kompetenzstelle ‚Zusammenleben im Quartier‘ auf Bundesebene, mehr finanzielle und personelle Ressourcen für die lokale Quartiersarbeit sowie dringend eine Vereinfachung und Flexibilisierung der Förderrichtlinien.“
InWIS gibt klare Handlungsempfehlungen
Die InWIS-Untersuchung formuliert klare Handlungsempfehlungen: Das derzeit vorherrschende isolierte Nebeneinander staatlicher Zuständigkeiten müsse abgebaut werden. Dazu sollten alle relevanten Akteure an einen Tisch gebracht werden – von Kommunen und Wohnungswirtschaft bis hin zu Pflegekassen, Wohlfahrtsverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Es brauche neue Finanzierungsmodelle für die Daseinsvorsorge, eine systematische Evaluierung bestehender Sozialleistungen sowie regulär verfügbare, kooperative Fördermodelle vor Ort. Ziel sei es, aus überforderten Quartieren wieder stabile Nachbarschaften zu entwickeln, in denen funktionierende Infrastrukturen, Vertrauen und soziale Teilhabe den Zusammenhalt stärken.
Die diesjährigen Preisträger „Soziale Stadt“
Wie trotz aller Widrigkeiten durch Kooperation und bürgerschaftliches Engagement Zusammenhalt in städtischen Quartieren entstehen kann, das erzählen die fünf Projekte, die in diesem Jahr mit dem „Preis Soziale Stadt“ geehrt wurden. Hier ein Überblick über die Preisträger:
ZusammenWachsen: Bürgerpark Kopernikus, Rudolstadt
RUWO Rudolstädter Wohnungsverwaltungs- und Baugesellschaft mbH
Mit der Initiative „ZusammenWachsen“ wurde eine ehemals brachliegende Abrissfläche im Stadtteil Kopernikus in einen lebendigen Bürgerpark umgewandelt. Das Projekt verfolgt das Ziel, die Bewohner für ihr Wohnumfeld zu sensibilisieren und aktiv in dessen Gestaltung einzubeziehen. Der Park dient heute als generationsübergreifender Treffpunkt, fördert Begegnungen und schafft ein neues Gemeinschaftsgefühl im Quartier. Besonders hervorzuheben ist die breite Beteiligung der Bürger bei Pflege, Organisation und Nutzung der Freifläche.
Kooperation Wohnungswirtschaft Wersten Südost, Düsseldorf
Rheinwohnungsbau GmbH, Sahle Wohnen, Städtische Wohnungsgesellschaft Düsseldorf
Im Düsseldorfer Stadtteil Wersten-Südost entstand nach Auslaufen des Städtebauförderprogramms „Soziale Stadt“ eine langfristige Kooperation mehrerer Wohnungsunternehmen. In einem gemeinsamen Vertrag verpflichteten sich die Akteure, die begonnene Quartiersarbeit mit eigenen Mitteln fortzuführen. Ziel ist es, die Lebensqualität der Bewohner zu erhalten und weiterzuentwickeln. Durch gezielte Maßnahmen, Beteiligungsprozesse und ein professionelles Quartiersmanagement wird das Gebiet kontinuierlich stabilisiert.
Quartiersarbeit Viehweide, Sindelfingen
Stadtjugendring Sindelfingen e. V., Wohnstätten Sindelfingen GmbH, Stadt Sindelfingen
Im Stadtteil Viehweide – einem Gebiet mit hoher Verdichtung und vielfältigen sozialen Herausforderungen – wurde bereits 2007 eine eigene Quartiersarbeit etabliert. Ziel war es, die Integration verschiedener Kulturen zu fördern, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und den Bewohnern das Gefühl zu geben, Teil einer lebendigen Gemeinschaft zu sein. Mit viel Engagement, Eigeninitiative und einer Reihe erfolgreicher Projekte – darunter eine regelmäßig erscheinende Stadtteilzeitung und eine selbst betriebene Website – hat sich die Quartiersarbeit zu einer festen Institution entwickelt.
Safe-Hub Berlin, Wedding
AMANDLA gemeinnützige GmbH
Der Safe-Hub im Berliner Stadtteil Wedding ist ein Bildungs- und Sportzentrum für Kinder und Jugendliche in herausfordernden Lebenslagen. Sport wird hier gezielt mit pädagogischen und sozialen Angeboten kombiniert, um Werte wie Teamgeist, Respekt und Verantwortung zu vermitteln. Ziel ist es, jungen Menschen neue Perspektiven zu eröffnen und sie in ihrer persönlichen Entwicklung zu stärken. Das Projekt beeindruckt durch seinen umfassenden Empowerment-Ansatz und die Verbindung von Stadtentwicklung, Bildung und Teilhabe.
Quartier am Markt, Hofgeismar
Selbstbestimmt Leben Gemeinsam Wohnen e.V.
Direkt im Herzen der Stadt gelegen, bietet das Quartier am Markt in Hofgeismar einen Ort für offenen Austausch, Nachbarschaftshilfe und freiwilliges Engagement. Die zentrale Anlaufstelle verbindet generationsübergreifende Aktivitäten mit niedrigschwelligen Angeboten, die auf die Bedürfnisse der Bewohner abgestimmt sind. Das Projekt steht exemplarisch für den Aufbau sozialer Netzwerke in ländlich geprägten Regionen und zeigt, wie Begegnungsorte zur Belebung von Innenstädten beitragen können.
Die Dokumentation „Preis Soziale Stadt 2025“ und die Studie zum kostenlosen Download finden Sie unten:
Redaktion (allg.)
