Interview zum „Pflege@Quartier“ der Gesobau

„Nachfrage erst bei Eintritt der Pflegebedürftigkeit“

In einem Interview mit der IVV erläutert Helene Böhm, Leiterin Sozial- und Quartiersmanagement bei der GESOBAU, die Hintergründe und den aktuellen Stand des Projekts nach drei Jahren.
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 Bild: Gesobau AG
Bild: Gesobau AG

Als eines der ersten Quartiere in Deutschland wurde das Modellgebiet Märkisches Viertel mit digital vernetzten Produkten und analogen Alltagshilfen ausgestattet. Wie ist der aktuelle Stand und sind weitere Wohnungen hinzugekommen?

Das Modellvorhaben „Pflege@Quartier“ wurde im Zeitraum 2015 bis 2018 umgesetzt. Grundsätzlich wurden alle Ziele, die mit dem Projekt verfolgt wurden, in diesem Zeitraum erreicht, darunter die Entwicklung eines Wohn- und Quartierskonzepts für ältere Mieterinnen und Mieter mit Pflegegrad im Märkischen Viertel, die Einbeziehung von Lösungen mit AAL-Technik und die Ausrichtung an individuellen Bedürfnissen der künftigen Nutzerinnen und Nutzer. Nach erfolgreichem Ende des Modellvorhabens war es uns wichtig, das Projekt weiterzuführen. Die die in den Wohnungen verbaute Assistenztechnik wurde den Projektteilnehmerinnen und -teilnehmern weiterhin kostenfrei überlassen. Seit 2018 bieten wir allen Mietern den Einbau digitaler Alltagslösungen an oder vermitteln im Bedarfsfall zu Anbietern und Beratungseinrichtungen.

Die Zahl der Wohnungen „Pflege@Quartier“ hat sich seit dem Ende des Projekts 2018 nicht erhöht. Es ist zwar teilweise gelungen, frei werdende Wohnungen nach Projektende als „Pflegewohnung“ weiterzuvermieten oder die beweglichen Einbauten anderen Mieterinnen und Mietern zur Verfügung zu stellen. Das Potenzial der Assistenztechnik konnte aufgrund mangelnder Nachfrage, insbesondere vor Eintritt eines Pflegefalls, jedoch nicht weiter ausgeschöpft werden – trotz intensiver Werbung, Aktionstagen und Infoveranstaltungen für die Zielgruppe.

Der Nutzen für die eigene Häuslichkeit durch den Einbau von Assistenten lässt sich der Zielgruppe 75 plus nur schwer vermitteln. Natürlich spielt auch die Kostenfrage für viele Senioren und Angehörige in diesem Zusammenhang eine Rolle. Dennoch ist davon auszugehen, dass das Interesse an AAL-Produkten in den nächsten Jahren steigen wird, da mittlerweile zahlreiche digitale Hilfsmittel in den Produktkatalogen der Pflegekassen aufgenommen wurden und zum Teil auch als Wohnumfeld verbessernde Maßnahme zuschussfähig sind. Erste Pflegestützpunkte in Berlin haben mittlerweile eigene Beraterinnen und Berater für die digitale Unterstützung in der Pflege. Das alles wird zur Akzeptanz und Verbreitung wesentlich beitragen. „Pflege@Quartier“ hat an diesen Entwicklungen einen starken Anteil.

Die Nutzerperspektive soll bei dem Projekt im Fokus stehen, deshalb wurde es gemeinsam mit älteren Mieterinnen und Mietern entwickelt. Wie sieht das konkret aus? Wie ist das Interesse an einer solchen Wohnung und wie die Resonanz der Mieter?

Die Nutzerperspektive war ein wesentlicher Aspekt bei der Entwicklung und Umsetzung des Modellvorhabens. Von Anfang an waren Interessenten einbezogen, wurden befragt und entwickelten während des gesamten Projekts das Vorhaben mit. Konkret ging es im Verlauf des Modellprojekts nie darum, die eine Lösung oder ein komplettes AAL-Paket in den Wohnungen einzubauen, sondern herauszufinden, was tatsächlich hilft, bedienbar oder präventiv nützlich sein könnte. Dazu wurden Workshops und Befragungen durchgeführt und Kosten-Nutzen-Analysen beauftragt.

Auch das Begleitprojekt „SeniorenNetz“ (www.seniorennetz.berlin) wurde initiiert, um die digitale Kompetenz der Zielgruppe zu stärken. „Pflege@Quartier“ wurde und wird weiter angeboten.

Die GESOBAU wird tätig bei individuellen Nachfragen, wir vermitteln den Kontakt zur Technikberatung bei den Pflegestützpunkten, verweisen auf Anbieter, mit denen wir im Rahmen von „Pflege@Quartier“ zusammengearbeitet haben oder Mieterinnen und Mieter beauftragen uns direkt mit dem Einbau technischer Assistenzsysteme (derzeit ausschließlich AAL-Basisausstattung, z. B. Herdüberwachung, Orientierungslicht, Funklichtschalter, Klingelverstärker).

Gibt es vergleichbare Konzepte anderer Wohnungsbaugesellschaften und wo liegt das Alleinstellungsmerkmal von „Pflege@Quartier“?

Bundesweit gab es einige mehrjährige Modellvorhaben, die heute zum Angebots​portfolio von Wohnungsunternehmen gehören, zum Beispiel das Konzept „Mitalternde Wohnung“ des VSWG in Sachsen oder PAUL in Kaiserslautern. AAL-Konzepte und Tätigkeitsfelder sind bisher stark forschungsgetrieben. „Pflege@Quartier“ hat Wissenschaft, Wohnungs-, Sozial- und Pflegewirtschaft, Marktanbieter und Anwenderinnen und Anwender im Projektzeitraum kontinuierlich zusammengeführt. Das Konzept hinter „Pflege@Quartier“ hat sein Alleinstellungsmerkmal in der Verknüpfung von AAL-Technik mit den im Quartier bestehenden Dienstleistungen und Anlaufstellen.

Die Fragen stellte Christina Hövener-Hetz

Das Interview gehört zum HauptextPflege@Quartier“: Ein innovatives Wohnkonzept der GESOBAU -In einem Boot mit Wissenschaft, AOK und Senioren

aus IVV 06/22

Christina Hövener-Hetz

Christina Hövener-Hetz
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Artikel „Nachfrage erst bei Eintritt der Pflegebedürftigkeit“
Seite 29
30.5.2022
„Pflege@Quartier“: innovatives Wohnkonzept der GESOBAU
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