Spiegelau: ein digitales Dorf im Bayerischen Wald

Arbeit und Leben auf dem Land

Spiegelau steht auf dem Ortsschild – und darunter „Digitales Dorf“. Noch hat das Seltenheitswert im Bayerischen Wald. Ein Modelldorf eben. Aber die Zeichen stehen auf Veränderung. Das Klischee vom Hinterwäldler hat ausgedient und das Sprichwort „Die Welt ist ein Dorf“ bewahrheitet sich in neuem Sinn.

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 Bild: Technologie Campus Grafenau
Bild: Technologie Campus Grafenau

Seit etwa anderthalb Jahren hat Bürgermeister Karlheinz Roth für das Rathaus in Spiegelau kein Papier mehr nachbestellt. „Bis auf wenige Schnittstellen zu den Verwaltungsbehörden arbeiten wir konsequent mit dem digitalen papierlosen Büro und erzielen so erhebliche Effizienzgewinne“, sagt das Oberhaupt der 4000-Einwohner-Gemeinde im Bayerischen Wald. Eine Veränderung von vielen in den letzten Jahren im „Digitalen Dorf Spiegelau“. Tradition und Moderne verbinden sich hier. Das sei das Schöne an Spiegelau. „Einerseits Natur, wo man die Seele baumeln lassen kann, andererseits jahrhundertelange Tradition in der Holz- und Glasindustrie, jetzt ergänzt um die Digitalisierung“, so Roth. Die Gemeinde gehört zu den Modelldörfern, die im Rahmen eines Wettbewerbs der Bayerischen Staatsregierung den Zuschlag und damit auch Förderung für Digitalisierungsvorhaben erhielten.

Lokal und weltweit vernetzt

In den vergangenen sechs Jahren wurden viele Projekte umgesetzt. „Die Schule ist modern geworden – komplett mit Glasfaser verkabelt, mit WLAN-Hotspots in den Klassenzimmern, dazu Dokumentenkameras sowie Kurzdistanz-Beamer.“ Ein Satz Tablets wurde beschafft und in der Pandemie für Schüler zusätzlich ein Laptop-Leihgeräte-Programm aufgelegt.

Die Bücherei im Dorf wurde um einen digitalen Bestand ergänzt und umfasst nunmehr insgesamt über 50.000 Bücher, Zeitungen, Hörbücher und andere Medien, die man auch weltweit ausleihen kann, für 15 Euro Jahresbeitrag.

Erfolgreich erprobt wurden ein Coworking Space, das nunmehr in die Trägerschaft des Kultur- und Bildungszentrums von Spiegelau übergegangen ist. Ein Bauingenieur, der in Passau arbeitet, war der Erste, der im November 2020 zeitweilig einen der vier Coworking-Plätze über das Gemeindeportal „Dahoam 4.0“ in Spiegelau gebucht hatte, in der Testphase noch kostenlos.

Auch am Rufbus, den man per App oder telefonisch für einen Euro buchen kann, sieht man, was sich in den letzten Jahren getan hat. Der Bus, der alle 33 Ortsteile von Spiegelau verbindet, musste überhaupt erst einmal analog fahren, damit man ihn auch digital einbinden konnte. Vorher gab es keinen Dorfbus, der in der Gemeinde selbst verkehrte – nur die Schul- und touristischen Busse sowie überregionale Angebote.

Gemeindeschwester Verah ist digital mit der Arztpraxis verbunden

Ein anderer Aspekt, der gleichzeitig Mobilität, Digitalisierung und Facharztmangel auf dem Land betrifft: „Wir sind in die Telemedizin eingestiegen, unter anderem mit digitalen Sprechstunden im Altenheim, was sonst gar nicht möglich wäre“, erklärt Roth. Und es gibt „Verah“, die digitale Gemeindeschwester, das heißt Fachpersonal mit Zusatzqualifikation. Die Schwester, die digital mit der Hausarztpraxis vernetzt ist, kommt ins Haus, nimmt zum Beispiel Blutdruck oder andere Vitaldaten ab. Der Arzt kann sich per Video zuschalten und dabei direkt auf die Vitaldaten zugreifen.

Als digitales Dorf war Spiegelau auch in den Hoch-Zeiten der Pandemie mit Lockdown und anderen Erschwernissen in einer günstigeren Position als andere. „Die Digitalisierung hat uns in die Lage versetzt, viele Teilbereiche des öffentlichen Lebens, die anderenorts komplett abgeschaltet werden mussten, am Leben zu erhalten“, so Roth. Das betraf nach seinen Worten die öffentliche Verwaltung, den Schulbereich, ebenso wie auch Gottesdienste im Livestream.

Vom Glück des Tüchtigen

Digitalisierung schön und gut, aber das kostet. Roths Antwort auf diesen Einwurf, der ihm in Diskussionsrunden nicht selten begegnet: Der springende Punkt sei doch, sie als Investition in die Zukunft zu begreifen. „Es entstehen damit auch neue Firmen und damit Arbeitsplätze für unsere Kinder“, so der Erste Bürgermeister von Spiegelau. „Wir in Bayern haben das Glück, dass wir von den Förderprogrammen profitieren können.“ Damit sei die Ausstattung der bayerischen Kommunen auch in Zukunft möglich.

Als Modellkommune ist man da in einer besonders komfortablen Lage. „Ihr bekommt Unterstützung, andere haben das nicht.“ – Auch diesen Einwand hört Roth des Öfteren und hält dagegen: „Man muss selbst initiativ werden. Das kostet Kraft und Geduld. Wir haben auch bei null angefangen, aber eben auch vieles schon länger vorgedacht.“

Es gab Zeiten, da sei er für sein Anliegen auch von der Politik belächelt worden: Breitband, also schnelles Internet, als Grundversorgung für den ländlichen Raum? „Das war vor 18 Jahren noch ein Diskussionsthema. Seinerzeit wurde dafür das erste Förderprogramm im Millionenbereich aufgelegt. Heute sind es Milliardenprogramme.“ Der hierfür zuständige Bundesminister für Landwirtschaft hieß damals Horst Seehofer, einer der Initiatoren Karlheinz Roth.

Gleichnis vom Grashalm

Für die Digitalisierung braucht man eine technische Vernetzung – aber ebenso eine Vernetzung von Akteuren, die das Ganze vorantreiben. Karlheinz Roth hat sich damals mit dem Bürgermeister der Nachbargemeinde Frauenau zusammengetan. Aber auch als Two-Men-Show lässt sich Digitalisierung vermutlich schwerlich durchsetzen? „Durchsetzen, das geht ohnehin nicht“, erwidert Roth. „Zugespitzt: Einen Computer zu kaufen und zu glauben, damit betreibt man Digitalisierung, das führt nicht zum Ziel.“ Man müsse die Menschen mitnehmen. Das sei ein Prozess. „Oder wie ein chinesisches Sprichwort sagt: Ein Grashalm wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht.“ Vor allem müsse man allen Bewohnern einen niedrigschwelligen Zugang zu dieser Technik ermöglichen, ganz gleich wie alt sie sind.

Deshalb hat sich die Gemeinde einiges einfallen lassen, um insbesondere Senioren den digitalen Einstieg zu erleichtern. „Wir haben zum Beispiel auch Wisch-Apps programmiert. Damit können Senioren die Bedienung von Smartphones ganz einfach ausprobieren – ohne etwa gleich einen Bezahlvorgang auszulösen.“ Es gehe darum, Berührungsängste zu nehmen, das Ganze aber auch mit einer gewissen zeitlichen Entspannung zu sehen. „Man muss zwar Ziele vorgeben, aber das Tempo dahin gemeinsam bestimmen. Dann ist die Akzeptanz auch um ein Vielfaches höher.“

Was der Waidler schon immer wusste

Wohnen, arbeiten, leben. Morgen und übermorgen – auf dem Land? Laufen die Dörfer den Städten gerade den Rang ab? „Definitiv ja“, so Roth. Der ländliche Raum sei der Lebensraum der Zukunft, zeigt er sich überzeugt. „Einfach auch deshalb, weil Themen wie Klimaschutz und Ressourcenschonung – worüber sich gerade städtische Regionen momentan sehr intensiv Gedanken machen – bei uns seit jeher etwas Selbstverständliches sind. Schon die Großelterngeneration hat uns gesagt: Wir müssen auf das aufpassen, was uns auf Zeit übertragen wurde, damit auch unsere Kinder noch eine Zukunft haben. Der Waidler hat das von Geburt an gelernt.“ Jetzt komme die Digitalisierung dazu. „Der wesentliche Nachteil – die Dezentralität – ist plötzlich weggefallen. Man hat hier alles, was man zum Leben braucht.“

Gerade erlebt Spiegelau einen starken Zuzug. Die demografische Lücke, die die Gemeinde aufgrund der geburtenschwachen Jahrgänge hat, wird Roth zufolge dadurch nahezu kompensiert. „Das heißt: Im Saldo verlieren wir keine Einwohner mehr. Dieser Trend ist weiterhin da. Wir könnten gar nicht so schnell Baugebiete ausweisen, wie wir Zuzug haben könnten.“

Es sind nicht nur Städter, die sich das Leben dort im Alter nicht mehr leisten können und deshalb aufs Land ziehen. „Von vielen Zuzüglern hören wir auch: Wir können hier genauso arbeiten wie in der Stadt und haben mehr Lebensqualität.“ Seit rund fünf Jahren steigt die Geburtenrate in dem bayerischen Dorf auch wieder stark an, nachdem die Langzeitprognose 2013 für Spiegelau noch von einem Einwohnerrückgang um 14 Prozent ausging. „Damals stand die Frage im Raum, ob wir unsere Kindertageseinrichtungen überhaupt erhalten können. Jetzt reichen die Plätze nicht mehr aus. Wir sind aktuell dabei, diesen Bedarf durch die Erweiterung unserer Kapazitäten abzudecken.“

Weitblick mit „Woidblick“

Von den Wohnformen bietet die Gemeinde weiterhin Einfamilienhäuser an, künftig aber auch Eigentums- und Mietwohnungen im mittleren bis gehobenen Wohnstandard. Nicht in der Peripherie, um den Donuteffekt nicht zu verstärken. „Wir konzentrieren uns auf die Innenentwicklung.“ „Woidblick“, der Name steht dabei für ein Wohnviertel in integrierter Lage, mit barrierefreien Eigentumswohnungen und Gründächern und Blick auf den Nationalpark Bayerischer Wald, das im Jahr 2024 bezugsfertig sein soll. „Denn Wohnen verändert sich heute auch auf dem Land.“

Nachverdichtung findet auch auf einer ehemaligen Sägewerksfläche statt. Dort entsteht ein nachhaltiges Wohn- und Geschäftsquartier. Der Architekturwettbewerb dazu startet demnächst. Parallel dazu werden im Ortskern integrierte Lagen revitalisiert, leerstehende Gewerbebauten so teils auch fürs Wohnen umfunktioniert. In ein ehemaliges Hotel zieht in Parterre Gewerbe ein, die Räume darüber werden zu Mietwohnungen.

Was mehr zählt als Geld

Starker Zuzug kann kleine Gemeinden schnell überfordern und treibt nicht wenige um. Auch in Spiegelau hat man sich darüber Gedanken gemacht. „Wenn man als kleine Gemeinde zu schnell wächst, gerät vieles in Schieflage“, so Roth. Natürlich sei jeder willkommen. „Aber wir wollen auch, dass diejenigen, die schon seit Jahrzehnten im Ort leben, sich hier ihre Zukunft bauen können. Wir wollen nicht zum zweiten Garmisch werden, wo letztlich das Geld bestimmt, wer das nächste Haus baut.“ Deshalb müsse man ein Stück weit steuernd eingreifen, so der Bürgermeister von Spiegelau. „Wir tun das jetzt auch zugunsten unserer Einheimischen mit einem Modell, das ihnen Bauen zu Hause weiter zu bezahlbaren Preisen ermöglicht. Dafür haben wir ein Punktesystem entwickelt.“ Das erste Haus nach diesem Punktesystem wird demnächst von einer einheimischen Familie bezogen.

Künftig will sich die Gemeinde auch stärker um digital unterstütztes Wohnen im Alter kümmern, sodass Senioren mithilfe smarter Konzepte länger in ihrem Zuhause bleiben können. „Konkrete Anwendungsfälle – das wäre für mich ein Ziel“, sagt Bürgermeister Roth. „Nicht nur zeigen, was die Technik kann,sondern zuerst fragen: Wo braucht der Mensch Hilfe? Und wie kann digitale Technik unterstützen?“

„Wir brauchen eine Digital-Analog-Balance“

 

 

Für uns ist die Digitalisierung ein zusätzliches Element und eine Investition in Arbeitsplätze hier im Land. Wenn wir das nicht tun, wird die Entwicklung trotzdem stattfinden, aber ohne uns.

Carla Fritz

Carla Fritz
freie Journalistin
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Artikel Arbeit und Leben auf dem Land
Seite 28 bis 31
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