Fünf Millionen Mal Nullenergie-Sanierung im Bestand bis 2030
Was wäre, wenn sich das Haus einer Eigentümergemeinschaft, ein vermietetes Mehrfamilienhaus oder das Quartier einer Wohnungsbaugenossenschaft innerhalb weniger Wochen klimaneutral sanieren ließe – und das ohne eine Erhöhung der Mietgesamtkosten? Das mag utopisch klingen, aber dieser Frage hat sich vor einigen Jahren die niederländische Initiative „Energiesprong“ angenommen. „Die Lebensdauer von Gebäuden überschreitet die Zeit, die uns noch bleibt, Klimaneutralität zu erreichen“, sagt Ron van Erck, Mitbegründer der Energiesprong Foundation und Head of International Market Development. Die Antwort: schnelles serielles Sanieren auf Nullenergiestandard mit 30 Jahren Garantie. Heute kann Energiesprong nicht nur auf Tausende erfolgreich sanierter Ein- und Mehrfamilienhäuser in den Niederlanden verweisen. Das Konzept wird inzwischen auch in Frankreich, Großbritannien, Schweden, Kanada und dem US-Bundestaat New York umgesetzt.
Sanierung revolutionieren
Die warmmietenneutrale, skalierbare Sanierungslösung baut auf vollautomatisierte Vorfertigung kompletter Gebäudehüllen in Modulbauweise, einschließlich Photovoltaik und integriertem Heizungssystem. „Das Heizungssystem ist komplett elektrisch. Das vorgefertigte Modul mit Wärmepumpe und Lüftungssystem wird im Zuge der Montage der Gebäudehülle an die Außenwand gesetzt. Alternativ kann das System direkt in die neue Außenhülle integriert werden“, erläutert Sanne de Wit, Head of Ideas bei der Energiesprong Foundation. In den Niederlanden könne eine Gebäudehülle mit Wärmecontainer inzwischen innerhalb einer Woche montiert werden.
Arbeiten in den Innenräumen werden im Anschluss durchgeführt. Dazu gehört etwa der Austausch von Installationen sowie Heizkörpern. Dies verlängere die Bauzeit; wenn möglich, würden jedoch vorhandene Anlagen genutzt. Wärmepumpen sind aber nur eine der Möglichkeiten bei einem Konzept, das sich unter der Maßgabe der Technologieoffenheit weiterentwickeln soll.
Das Net-Zero-Haus (zu Deutsch: Netto-Null-Haus) produziert so viel Energie, wie es selbst verbraucht. „Die energetische Selbstversorgung liefert das ganze Jahr lang 21 °C Raumtemperatur, zwölf Minuten Heißwasser (38 °C) pro Person und ein Stromkontingent von 1.800 kWh pro Person für Geräte“, beschreibt Ron van Erck die Details. Mit dieser Vorgabe werde der Netto-Null-Standard erreicht. Zwölf Minuten lang 38 °C heißes Wasser aus dem Hahn klinge nicht sehr viel, entspreche aber dem Standard von 50 l Heißwasser à 45 °C. Abweichendes Nutzerverhalten sei möglich – wer mehr verbrauche, zahle extra – dann sei das Gebäude jedoch nicht mehr energieneutral.
Die Energiesprong-Initiative saniert nicht selbst. Sie gibt Impulse, spricht Kommunen, Wohnungsgesellschaften und Bauunternehmen an und setzt Pilotprojekte in Gang. Sie schafft Synergien und beschafft Finanzierungen. Man will nicht weniger als die Bauindustrie revolutionieren, in ähnlicher Art wie die Fließbandfertigung des Ford Model T Anfang des 20. Jahrhunderts die komplette Autoindustrie und die menschliche Fortbewegung revolutionierte.
Konzept kommt nach Deutschland: Der dena Volume Deal
Nach zwei Jahren Arbeit und mehreren hundert Gesprächen und Verhandlungen gab die Deutsche Energieagentur (dena) auf dem Energiewendekongress im November in Berlin den Startschuss für den sogenannten Volume Deal zwischen Politik, Wohnungswirtschaft und Bauwirtschaft: 22 deutsche Wohnungsunternehmen stellen insgesamt 11.635 Wohneinheiten zur Verfügung, bei denen in den kommenden vier Jahren das Energiesprong-Konzept Anwendung findet. Dieser Nachfrage begegnen neben Mitinitiator Ecoworks unter anderem BAM Gruppe, Renolution BV aus Haaksbergen in den Niederlanden sowie die B&O Gruppe, außerdem eine Reihe von Zulieferunternehmen für vorgefertigte Fassaden- und Solardachelemente sowie Haustechnikmodule. Für die Unternehmen aus der Bauwirtschaft legte die dena überdies im Dezember ein „Accelerator-Programm“ mit Schulungen und finanzieller Unterstützung auf.
„Das Energiesprong-Prinzip – klimaneutral, bezahlbar, schnell – soll gutes Klima in guter Nachbarschaft bringen“, sagt dena-Geschäftsführer Andreas Kuhlmann. Übersetzt heißt das: langjährige Garantie des Nullenergiestandards, kurze Umsetzungszeiten, hoher Wohnkomfort und architektonische Vielfalt sowie Mieterbeteiligung und nicht zuletzt eine Realisierung zu warmmietenneutralen Kosten, erklärt Kristina Zimmermann, die bei Energiesprong die Kommunikation betreut. Sie wünscht sich auch, dass BIM-basierte industrielle Fertigung und das Prinzip der Technologieoffenheit den Ausschreibungstext auf „1 Stück klimaneutrale Sanierung“ reduzieren. Zugleich müssten regulatorische Herausforderungen untersucht und skalierbare Technologien entwickelt werden, so Kuhlmann: „Hier geht es nicht lediglich um ein Pilotprojekt, sondern vielmehr um die Entwicklung eines Marktes. Dabei soll auch etwas für den Industriestandort Deutschland getan werden.“
„Fast 12.000 Wohneinheiten sind ein super Anfang. Wir gehen hier von einem Bauvolumen von fast 1 Milliarde Euro in den nächsten vier Jahren aus“, sagt Uwe Bigalke, Leiter des dena Energiesprong-Teams Deutschland. Er wünscht sich noch mehr Bauunternehmen, Zulieferer und Ideen. „Wir bräuchten 100 bis 200 Sanierungsfabriken in Deutschland.“
Die Bundesregierung, überzeugt vom Konzept, habe die serielle Gebäudesanierung nun gesetzlich verankert, erklärt Andreas Feicht, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium (BMWi), auf dem dena-Kongress. Das BMWi arbeite daran, dass die entsprechende Förderrichtlinie Ende 2020 bereitsteht. Die ersten Bundesländer legen bereits zusätzliche Förderprogramme auf.
Seriell digital
Der Begriff „Serielles Bauen“ lässt sich durchaus unterschiedlich verstehen. Der DDR-Plattenbau war ein Beispiel für extrem effiziente Serienfertigung und schuf identische Wohnregale. Zeitgemäßes serielles Sanieren nutzt zwar industrielle Vorfertigung, aber das unter Beibehaltung oder auch Schaffung architektonischer Vielfalt. Das Energiesprong-Prinzip arbeitet mit BIM-basiertem industrialisiertem Systembau. BIM sorgt für effiziente Bemusterung und die Erstellung von verlässlichen Festpreisangeboten. Grundlage der millimetergenauen Vorfertigung im Werk sind Gebäudeinformationsdaten, die vor Ort per Laser und Scan aufgenommen werden. Digitalisierung ermöglicht Energiemanagement unter Nutzung von Wetterprognosen und IoT-basierten Daten zum Nutzerverhalten.
>> IVV-Fachartikel aus 05/2022: Die deutsche Bauwirtschaft kann die Großserie gar nicht mit Teil Serielles Sanieren mit Energiesprong
Der Kuckuck in Hameln – die Nummer eins in Deutschland
Auf dem Baugerüst montieren in Regenkleidung gehüllte Arbeiter ein Fassadenmodul an einem zweigeschossigen Mehrfamilienhaus. Es wird von einem Baukran in Position gehalten. Die Befürchtung, der strömende Regen könnte die Dämmschicht der 30 cm starken Module aus recycelter Glaswolle mit Holzfassade ruinieren, räumt Bauleiter Michael Fahrenkamp aus: Die Seitenkanten sind standardmäßig mit Folien geschützt.
Das Gebäude mit zwölf Wohnungen aus den 1930er-Jahren steht leer, denn es wird aufgrund von Schwammbefall kernsaniert, Haustechnik und Elektrik eingeschlossen. Für den Eigentümer, die Arsago Gruppe und den Generalübernehmer und künftigen Energielieferanten Ecoworks bot es sich deshalb als perfektes Übungsobjekt an. Am Prototyp teste und perfektioniere man das Konzept, bevor dann am „offenen Herzen“, das heißt an bewohnten Gebäuden, operiert wird. Die ersten zwei Module, gefertigt von der Firma Opitz Holzbau, einem Unternehmen der Knauf-Gruppe mit Sitz in Neuruppin, wurden just-in-Time geliefert und vor der Erdgeschossfassade montiert.
Den Ablauf beschreibt Ronald Meyer, bei Ecoworks für den technischen Vertrieb zuständig, wie folgt: Die vorgefertigten Fassadenmodule mit integrierten Fenstern werden vor die vorhandene Fassade gesetzt. Dann wird die Dachfolie herübergezogen und das Dachmodul aufgesetzt. Zum Schluss werden die alten Fenster entfernt. Ecoworks sei dabei, für die Laibung einen Futterkasten zu entwickeln, der den Mietern beim Umbau Schmutz und Staub erspare, alles luft- und wärmedicht abschließe und auch noch gut aussehe.
Die Arbeiten an zunächst drei Wohngebäuden in Deutschlands erstem Net-Zero-Projekt umfassen die Gebäudehülle einschließlich in die Fenster integrierter Wohnraumlüftung, die Wärmetechnik und die Kellerdeckendämmung. Eine zentrale Wärmepumpe versorgt die Gebäude mit Wärme und heißem Wasser. Das Modul inklusive Ultrafiltrationsanlage steht hier in einem gesonderten Schuppen.
Ecoworks entstand 2018 als Startup – mit dem Ziel, den Aufbau einer Industrie zu unterstützen. „Wir erfinden keine neuen Elemente, sondern wollen die massiven deutschen Lösungskompetenzen nutzen und vernetzen“, sagt Mitgründer Emanuel Heisenberg. Man wolle den Schlafzustand der deutschen Wirtschaft beenden und die momentane Sanierungsquote des Wohnungsbestandes von 0,8 Prozent pro Jahr auf 2 Prozent erhöhen. Gemeinsam mit Partnerunternehmen solle sich das Konzept auf 400.000 Wohnungen pro Jahr skalieren lassen. Der Plan: 5 Millionen klimaneutral sanierte Wohneinheiten bis 2030. So schnell wie die Niederländer sei Ecoworks noch nicht, man arbeite zurzeit mit dem Ziel 100 Tage für ein Mehrfamilienhaus, so Heisenberg. Finanziell rechne sich das gegenwärtig nur mit umfangreichen Förderungen. „Mit dem höheren KfW-Zuschuss ab 2020 sind wir 20 bis 30 Prozent günstiger als die handwerkliche manuelle Sanierung.“ Im Januar 2020 stieg der Tilgungszuschuss beim KfW-Programm Energieeffizient Sanieren auf 40 Prozent.
Zufriedene Mieter verbreiten die gute Botschaft aus eigenem Antrieb. Auch deshalb setzen Ecoworks und Arsago alles daran, deren Belastung zu minimieren, Prozesse zu optimieren und wo möglich in die Phase der industriellen Vorfertigung zu verlegen. Die Optimierung beginnt beim digitalen Aufmaß, das die beauftragte Firma per Scan in wenigen Stunden durchführt. „Die Lernkurve am Objekt ist für alle Beteiligten enorm“, sagt Ronald Meyer. „Ich habe selten so viel in so kurzer Zeit gelernt.“ Meyer (56) ist seit 30 Jahren Bauingenieur.
In Deutschland bilden die vielen Bauvorschriften noch ein Hindernis
Im Quartier Kuckuck in Hameln leben mehr als 20 Nationen. Nachdem das Quartier lange traurige Berühmtheit aufgrund von sozialen Problemen, Kriminalität und Vandalismus genoss, gelang der Arsago, seit 1. Januar 2017 Eigentümerin eines Großteils der Wohnungen, dem Quartiersmanagement und ehrenamtlich engagierten Bewohnern in den letzten Jahren der Wandel. Florian Schrage, Architekt, Asset Manager bei der Arsago, sieht im Energiesprong-Prinzip eine große Chance. „Wir sehen die Umsetzung in unserem Objekt als unseren Beitrag zur Energiewende“, sagt er. Energetische Sanierungen seien im Normalfall wirtschaftlich nicht darstellbar. Das müsse sich ändern. Wie es Prototypen an sich haben, werde das Projekt Kuckuck aber zunächst teurer. „Trotzdem wird unser Versuchsmodell ein vollwertiges Produkt, das sofort einwandfrei funktionieren und eine lange Lebensdauer aufweisen muss.“ Schon jetzt zeige es, dass das Konzept in Deutschland umsetzbar ist und finde positive Resonanz bei den Anwohnern und Anklang bei Medien, Politik und Akteuren, die es aufgreifen. „Damit die Net-Zero-Sanierung nachhaltig Erfolg hat, braucht es aber eine finanzielle strukturelle Förderung der deutschen Industrie. Bauvorschriften und Genehmigungsverfahren müssen vereinfacht werden, denn zurzeit sind noch zu viele Einzelabsprachen erforderlich“, sagt Schrage.
Um die Klimaziele im vermieteten Gebäudebestand sozialverträglich zu erreichen, müssen öffentliche Unterstützungsleistungen massiv ausgeweitet werden, allein für die vermieteten Wohnungen in Deutschland um jährlich mindestens sechs Milliarden Euro, für Wohngebäude insgesamt um mindestens 14 Milliarden Euro, heißt es dazu in einem gemeinsamen Papier des Spitzenverbandes der Wohnungswirtschaft GdW, des Deutschen Mieterbundes und weiterer Verbände.
Weitere Artikel zum Thema Serielles Bauen und Energiesprong finden Sie auf der Website www.ivv-magazin.de
MSc, Dipl.-Ing. Silke Schilling


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