Gebäudehülle und Haustechnik in einem Paket
Die frisch sanierte historische Mitte der Kleinstadt Greiz im Südosten Thüringens ist eine Augenweide, genauso wie das Obere und Untere Schloss. Im Zentrum der Stadt an der Weißen Elster lässt es sich rundum gut leben. Doch Kati Stein reicht das nicht. Als Vorstand der Wohnungsgenossenschaft eG Textil, Greiz, möchte sie, dass es sich auch in ihrem Wohnungsbestand außerhalb des Zentrums gut und bezahlbar leben lässt. Daher beschloss die Genossenschaft 2018 unter anderem die gründliche Modernisierung von 15 Wohnungen in der Schmidtstraße 12–14. Die stammen aus dem Jahr 1969 und wurden noch dazu, wie alle anderen Gebäude im Gebiet, mit Gasthermen beheizt. Die Warmwasserbereitung basierte ebenfalls auf Gas.
„Das Gebäude war schon fast leergezogen“, sagt Kati Schmidt. „Da fragte uns der Verband Thüringer Wohnungs- und Immobilienwirtschaft, ob wir in Thüringen ein Zeichen setzen und es nach dem Energiesprong-Prinzip sanieren wollten. Das Energieministerium des Landes würde uns mit über zwei Millionen Euro fördern.“ Kurz entschlossen informierte sie sich über die Details des Konzeptes, das aus den Niederlanden stammt und dort seit 2013 umgesetzt wird.
Der Sprung Richtung NetZero
Energiesprong nach niederländischem Vorbild heißt, mittels digitalisierter Bauprozesse und hochwertigen, standardisierten Lösungen mit seriell vorgefertigten Elementen einen hohen und dennoch bezahlbaren Wohnkomfort herzustellen. Versprochen werden kurze Sanierungszeiten, überschaubare Kosten und langjährige Performance. Bewohnerinnen und Bewohner sollen nicht mit langen Bauzeiten belastet werden. Ziel ist der NetZero-Standard, d.h., dass ein fertig saniertes Bestandsgebäude übers Jahr gerechnet nur so viel Energie für Heizung, Warmwasser und Strom verbraucht, wie es selbst erzeugt. Künftig soll diese Art des Sanierens warmmietenneutral umsetzbar sein. Das Energiesprong-Prinzip wird in Deutschland über die Deutsche Energieagentur (dena) in die Breite getragen.
Das alles hörte sich für Kati Stein sehr überzeugend und wirtschaftlich an. „Wir sagten zu und beschlossen zudem, auch die Wohnungsgrundrisse zu verändern, Balkone anzubringen, Aufzüge einzubauen und Photovoltaik auf dem Dach zu installieren“, berichtet die studierte Betriebswirtschaftlerin.
Zur Unterstützung holten sich die Greizer das Team der ecoworks GmbH aus Berlin, eine Innenarchitektin und einen Elektrofachplaner ins Boot.
Vorfertigung im Werk spart Montagezeit
Ecoworks hat sich auf die digitale Planung und Umsetzung serieller Sanierungen spezialisiert. Mit seinem Konzept holte das Start-up 2019 den Perpetuum Energieeffizienzpreis und 2020 den PropTech Innovationspreis. Das Team vermisst per 3-D-Scan ein Gebäude und entwickelt auf dieser Basis einen digitalen, dreidimensionalen Gebäudezwilling, der während des gesamten Bauprozesses für alle Beteiligten als Modell dient. Bis zu 80 Prozent der Bauleistungen werden in die Fabrik verlagert. Dieser Ansatz einer energetischen Sanierung verspricht vor allem einen verkürzten Bauablauf.
Jan Grüneberg, Projektmanager bei ecoworks, erklärt näher, wie das im vorliegenden Projekt funktioniert: „Das Greizer quaderförmige Gebäude ohne Vor- und Rücksprünge bot sich für unsere Vorgehensweise sehr gut an. Wir werden hier eine Hülle davorsetzen, das Dach und die Kellerdecken dämmen. Für die Hülle kommen acht Meter breite, werkseitig vorgefertigte Fassadenelemente aus Faserzement mit einem U-Wert von 0,13 zum Einsatz. Darin sind bereits Fenster, Sonnenschutz, Lüftungsleitungen und Wasserstränge enthalten. Das erspart den herkömmlichen Leitungsschacht im Inneren der Wohnung. Über Windsoganker werden die Elemente im Abstand von zehn Zentimeter einfach vor die bestehende Fassade geschossweise übereinandergestapelt und verbunden. Die komplette Lastabtragung erfolgt über die gesamte Gebäudehöhe im Sockelbereich. „Das alte Teerdach wird entfernt und durch dämmende Sandwichelemente ersetzt, einschließlich der nötigen Auslegungen für Photovoltaik (152 Module/61 Kilowatt Spitzenleistung). Dazu kommt ein 60-kWh-Stromspeicher. Photovoltaik kombiniert mit Luft-Wärmepumpen-Technik soll künftig so viel Strom erzeugen, wie die Mieter übers Jahr zum Heizen, für Haushaltsstrom, Lüftungsstrom und Warmwasserbereitung benötigen. Sie können den Strom dann vergünstigt entsprechend des Mieterstrommodells über den örtlichen Energieversorger, die Stadtwerke, kaufen.
Erste Praxisbeispiele realisiert
Dass ihr Energiesprong-Prinzip der seriellen Sanierung funktioniert, haben die Ecoworker bei ähnlichen Projekten unter anderem in Köln und Hameln bewiesen. In Köln wird im Auftrag der LEG Immobilien SE ein bestehender Wohnkomplex bis Mitte nächsten Jahres in ein Net-Zero-Quartier verwandelt – im bewohnten Zustand. Im Quartier Kuckuck der arsago Real Estate Management GmbH Hameln sorgen sieben Meter lange, 2,85 Meter hohe und 36 Zentimeter dicke vorgefertigte Holzfassadenelemente für erhebliche Energie- und damit Kostensenkung. Dach- und Wandbauteile enthalten auch dort bereits Photovoltaikmodule, eine Wärmedämmung aus Recycling-Glaswolle, Fenster sowie eine dezentrale Lüftung mit Wärmerückgewinnung. Auf der Baustelle wurden sie zügig montiert. Eine 20 Zentimeter dicke Dämmung an der Kellerdecke ergänzt das Sparkonzept, mit dem das Gebäude heute KfW55-Standard erreicht. Gefördert wurde die Maßnahme durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die Städtebauförderung und das EU-Programm INTERREG.
Hürden gemeinsam bewältigen
„Ich bringe zwar viel Berufserfahrung aus der Stadtsanierung mit“, berichtet Kati Stein, „aber die digitale serielle Sanierung ist auch für mich völlig neu und hält viele Überraschungen parat. Denn der Weg vom digitalen Modell in die Praxis verläuft bei einem Pilotprojekt eben nicht immer hürdenlos. Zwischen Planern, Architektin, Handwerk, Ämtern, Energieversorger und Genossenschafter existieren viele Schnittmengen, die vernünftig zusammengebracht werden müssen. Das heißt für alle, an einem Strang zu ziehen und Befindlichkeiten außen vorzulassen. Dieser Tage ist das umso wichtiger, da niemand weiß, welche Materialpreise morgen noch gelten oder welche Firma noch Personal- und Baustoffkapazitäten hat.
Zudem gibt es beim Mieterstrommodell noch reichlich Bürokratie in den Abrechnungen. In diesem Lernprozess für alle Beteiligten reichen Videokonferenzen oft nicht aus, um Fragen und Bedenken zu klären. „Daher treffen wir uns jetzt regelmäßig in Greiz und beraten die Vorgehensweise gemeinsam an einem Tisch. Das ist der beste Weg, um das Sanierungskonzept zügig zu verwirklichen. Denn jetzt ist alles vorbereitet und die Sanierung kann beginnen. Mitte 2023 soll das sanierte Haus einzugsbereit stehen“, meint Kati Stein zuversichtlich.
Es wird dann das erste Gebäude Ostdeutschlands sein, das nach dem „Energiesprongprinzip“ realisiert wird. „Wenn alles so läuft wie berechnet, sparen wir in den kommenden 15 Jahren etwa 654 Tonnen CO2 bzw. 2.554.890 Kilowattstunden Energie ein. Für uns ist das ein weiterer Schritt, um 2025 im gesamten Quartier klimaneutral zu sein. Dazu zählt auch der Aufbau eines kalten Nahwärmenetzes mit Erdwärmesonden und Sole-Wasser-Wärmepumpen. Das wird voraussichtlich im Jahr 2024 geschehen. Nicht zu vergessen die abschließende Wohnumfeldgestaltung, die das Projekt abrundet.“
Der dena zufolge kämen bundesweit 2,3 Millionen Gebäude für eine digitale Vermessung mit anschließender industrieller Fertigung der Dämmteile infrage. Greiz, Köln, Hameln und bald auch Erlangen sind der Anfang. Serielle Sanierung braucht jedoch viel mehr Tempo und Akteure, um einen echten Energiesprung in der Gebäudewirtschaft zu vollziehen.

Bild: Bärbel Rechenbach

Energiesprong-Pojekt in den Niederlanden: Das sanierte Reihenhaus hat keine Schornsteine mehr. Der Heizungsbetrieb ist gänzlich dekarbonisiert. Bild: Energiesprong International
SHK-Branche sieht Vorteile in der Serie
Bundesförderung „Serielles Sanieren“
Modul II: Entwicklung und Erprobung serieller Sanierungskomponenten für individuelle Pilotprojekte
Modul III: Ergänzende Investitionsbeihilfen zum Aufbau von Produktionskapazitäten serieller Sanierungskomponenten
Bärbel Rechenbach


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