Beurteilung von Risiken vor, die von Gebäuden und Grundstücken ausgehen können
Die Bild-Zeitung schrieb am 20. März von einem „Gebäude-TÜV“, der zusätzliche Kosten für Millionen Hausbesitzer und Mieter verursachen werde. Auslöser des Berichts war die Veröffentlichung der DIN 94681 als Entwurf. Sie trägt den sperrigen Titel „Verkehrssicherheitsüberprüfung für Wohngebäude - Regelmäßige Prüfroutinen im Rahmen von Sichtprüfungen und Zustandsbewertungen, Grundlagen und Prüflisten“. Der Entwurf sieht regelmäßige Prüfungen vor, um die Verkehrssicherheit von Gebäuden zu gewährleisten. Dazu führt die Norm auch eine neue Qualifikation für Personen ein, um solche Prüfungen durchführen zu können. Der Entwurf sieht ein allgemeines Verfahren zur Beurteilung von Risiken vor, die von Gebäuden und Grundstücken ausgehen können. Dabei erfasst der Entwurf auch Bereiche, an die bauordnungsrechtlich Anforderungen gestellt werden, wie unter anderem Konstruktion und Standsicherheit, Feuerschutz, Absturz- und Sturzsicherung, technische Anlagen.
Haus & Grund: „250 Kontrollpunkte wären abzuarbeiten“
Kritik kommt unter anderem von Haus & Grund, Landesverband Rheinland-Pfalz. Ziel der Instituts-Überlegungen solle sein, Sicherheitsmängel an Gebäuden frühzeitig zu erkennen und zu beheben. Die Norm solle sich auf verschiedene Gebäudegrößen anwenden lassen, von der kleinen Wohnanlage bis zum Hochhaus. „Schon das Inhaltsverzeichnis der geplanten DIN-Norm 94681 zeigt, wie allumfassend das DIN sich den Gebäude-TÜV vorstellt“, berichtet Ralf Schönfeld, Verbandsdirektor von Haus & Grund Rheinland-Pfalz. Insgesamt stünden in dem Entwurf rund 250 Kontrollpunkte, die es zumindest in Teilen abzuarbeiten gelte. Darunter fielen etwa jährliche Kontrollen von Treppengeländern, Balkonbrüstungen oder Dachrinnen. „Man kann heute schon erahnen“, so Rechtsanwalt Schönfeld, „dass solche Sicht- und Funktionsprüfungen plus die entsprechende Dokumentation viel Zeit und damit Geld kosten werden. Mehrere hundert Euro pro Jahr dürften dann auf Mieter umgelegt werden. Bei Einfamilienhäusern könnten es laut ersten Schätzungen sogar 1.000 Euro jährlich und mehr sein.“
Haus & Grund fordert das Deutsche Institut für Normung dazu auf, diese Pläne sofort und vollständig aufzugeben. „Das Letzte, was wir jetzt brauchen können, sind weitere Normen und Bürokratiemonster, die das Wohnen verteuern“, sagt der Landesvorsitzende von Haus & Grund Rheinland-Pfalz, Christoph Schöll.
DIN: „Wir geben lediglich einen praxisnahen Leitfaden heraus“
Noch am Tage des Bild-Berichtes reagierte das Deutsche Institut für Normung mit einer Stellungnahme. Die bei DIN entwickelten Normen seien Empfehlungen und in der Anwendung freiwillig. Nur wenn der Gesetzgeber ihre Einhaltung zwingend vorschreibe, würden Normen bindend, eine gesetzliche Regelung sei bei dieser Norm nicht vorgesehen. Die geplante Norm sei als Orientierungshilfe für Eigentümer und Betreiber von Wohngebäuden angelegt. Sie fasse die auf Basis von Gesetzen und Verordnungen bereits bestehenden Anforderungen in einem praxisnahen Leitfaden zusammen und konkretisiere sie. Darüber hinaus gehende Anforderungen würden in der Norm nicht enthalten sein. Die neue Norm unterstütze damit die Ziele der Gesetze und Verordnungen, um Unfälle durch herabfallende Bauteile, defekte Treppen, instabile Balkone oder undichte Gasleitungen zu verhindern. Solche Vorfälle führten oft zu hohen Folgekosten für Eigentümer und Gefahr für Mieter – eine frühzeitige Überprüfung könne langfristig Kosten senken.
Bernreiter: „Entwurf muss ersatzlos gestrichen werden“
Bayerns Bauminister Christian Bernreiter, derzeit auch Vorsitzender der Bauministerkonferenz der Länder, überzeugt das nicht. Er sagt: „Der Vorstoß des DIN ist kontraproduktiv“. In einer Stellungnahme lässt er wissen: „Solche Prüfungen bringen keinen wesentlichen Mehrwert und kosten richtig Geld. Ich werde mich dafür einsetzen, dass der Entwurf ersatzlos gestrichen wird!“
Bernreiter verweist auch auf den neuen gesetzlichen Gebäudetyp E für vereinfachtes Bauen. In Bayern würden derzeit in 19 Pilotprojekten neue Bau- und Wohnformen ausprobiert. Ziel sei es, mehr Flexibilität und Spielräume bei Bauvorhaben zu schaffen und Bürokratie abzubauen.
VSWG fürchtet zusätzliche Kosten für Zertifizierungen
Die in Chemnitz erscheinende Freie Presse zitiert Mirjam Philipp, die Chefin des Verbandes der Sächsischen Wohnungsgenossenschaften (VSWG): „Durch die neue DIN-Norm entsteht kein Mehrwert; weder für die Gebäudeeigentümer noch für die Mieter.“ Sie schaffe im Gegenteil sogar Probleme, weil der Entwurf auf Einzelgebäude abstelle. „In der Wohnungswirtschaft erfolgt die Verkehrssicherung jedoch im Quartierszusammenhang“, so Philipp. Ein weiterer Knackpunkt: Für die Prüfung solle künftig ein Sachkundenachweis erforderlich sein. Den hätten aber viele Mitarbeiter und Hausmeister nicht, die bisher für die Verkehrssicherung sorgen. „Eine zusätzliche Zertifizierung von Mitarbeitern schafft hier aber keine Vorteile in der Sicherheit, sondern nur zusätzlichen Aufwand und Kosten“, kritisiert Mirjam Philipp.
Interessenverbände haben bis 7. April Zeit, Stellungnahmen zur neuen Norm abzugeben. DIN-Normen sind ihrer Natur nach zwar lediglich Empfehlungen und damit freiwillig in der Anwendung, quasi Gesetzeskraft erhalten sie aber allein dadurch, dass sie in Streitfällen von Gerichten als Beurteilungsmaßstäbe angewandt werden.
„Hamburg-Standard“ lichtet das Normen-Dickicht
Aus Politik und Wohnungswirtschaft gibt es seit geraumer Zeit Kritik am überbordenden Normungswesen. Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher hatte auf dem Wohnungsbau-Tag Mitte April 2024 in Berlin auf die absurde Situation hingewiesen, dass von den 4.000 DIN-Normen nur 20 Prozent als gesetzlicher Mindeststandard festgeschrieben seien. Dennoch würden Bauunternehmen und Bauträger immer 100 Prozent aller Normen einhalten, weil sie Schadenersatzforderungen vorbauen müssten, was die Baukosten stark in die Höhe treibe. Es blieb nicht bei der bloßen Kritik. Im Februar dieses Jahres hat die Hamburger Baubehörde den sogenannten „Hamburg-Standard“ vorgestellt. Ein Jahr lang haben 300 Fachleute im Auftrag der Baubehörde den Normendschungel durchforstet. Zentrale Erkenntnis: Die Baukosten lassen sich um ein Drittel senken, ohne komfortables und sicheres Wohnen zu gefährden.
Update, 15.04.25:
VDIV legt Einspruch gegen geplanten Gebäude-TÜV für Wohngebäude nach DIN 94681 ein
Im Zentrum des Einspruchs stehen fünf wesentliche Kritikpunkte:
- Fehlende gesetzliche Grundlage: Der Entwurf greift tief in bestehende Verantwortungsstrukturen ein, ohne dass eine gesetzlich legitimierte Notwendigkeit besteht.
- Versteckte Pflichtenverlagerung: Aufgaben, die dem Staat obliegen, würden faktisch auf private Eigentümer und Verwalter übergehen.
- Unverhältnismäßiger Aufwand: Die geforderten Prüfungen verursachen erheblichen Verwaltungs- und Kostenaufwand – insbesondere im Hinblick auf Fristenmanagement und Dokumentationspflichten.
- Keine wirtschaftliche Bewertung: Eine fundierte Kosten-Nutzen-Abwägung fehlt bislang vollständig. Die zusätzlichen Prüfanforderungen könnten die Betriebskosten spürbar erhöhen.
- Gefahr der faktischen Verpflichtung: Selbst ohne Gesetzesstatus könnte die Norm de facto verbindlich werden – mit entsprechenden haftungsrechtlichen Konsequenzen.
DIN-Institut begrüßt „gesellschaftliche Diskussion“
Die Kritik an der Dominanz der DIN-Normen bleibt im Deutschen Institut für Normung in Berlin (DIN e.V.) nicht ungehört. Das Vorstandsmitglied des Vereins, Daniel Schmidt, begrüßte in einer Online-Stellungnahme die normative Entschlackungskur und stellt sich quasi an die Spitze der neuen Bewegung: „Der Hamburg-Standard ist ein sehr vernünftiger Beitrag zu der von DIN geforderten gesellschaftlichen Diskussion, welche Anforderungen wir an Wohnraum stellen und wo wir bereit sind, Verzicht zu üben.“ Normen seien, so der DIN-Sprecher weiter, kein starres Korsett, sondern ein flexibles Instrument, das Innovationen unterstütze. Sie böten eine verlässliche Grundlage für Bauvorhaben, ließen aber auch bewusst Spielraum für alternative Lösungen. Bei Gerichtsverfahren im Baubereich würden oftmals Normen zur Rechtsprechung herangezogen. Es bestehe jedoch bereits heute die Möglichkeit, von ihnen abzuweichen – auch ohne neue Konzepte wie den Gebäudetyp E oder den Hamburg-Standard. Die Abweichungen könnten in zivilrechtlichen Verträgen zwischen Bauherrn und Bauunternehmen vereinbart werden.
Thomas Engelbrecht
