InWIS-Studie schlägt Alarm

Spannungen in Großsiedlungen erreichen gefährliches Maß

Immer mehr Großstadtquartiere geraten durch Armut, Migration, Alterung und Einsamkeit unter Druck, wie eine neue Studie zeigt. Der GdW bestätigt diesen Befund und warnt davor, dass die Bereitschaft zur Integration abnehme.

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345 Stadtteile in Deutschland sind von Armut geprägt, erhalten jedoch keine staatliche Förderung aus dem Programm „Sozialer Zusammenhalt". Bild: stock.adobe.con / Patrick Lohmüller
345 Stadtteile in Deutschland sind von Armut geprägt, erhalten jedoch keine staatliche Förderung aus dem Programm „Sozialer Zusammenhalt". Bild: stock.adobe.con / Patrick Lohmüller

Massiver sozialer Druck lastet auf immer mehr Wohnquartiere in Deutschland. Zu diesem Ergebnis kommt die InWIS-Studie „Überforderte Quartiere. Engagement – Auswege – Lösungen“, die im Auftrag des Spitzenverbands der Wohnungswirtschaft (GdW) erarbeitet wurde. Die Untersuchung zeigt nach Einschätzung von Prof. Torsten Bölting, Geschäftsführer des InWIS-Instituts, dass sich gesellschaftliche Herausforderungen wie Armut, Migration, Wohnungsmangel, Überalterung und Einsamkeit in bestimmten Stadtteilen bündeln – mit zunehmend dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Überdurchschnittlich viele Empfänger von Sozialleistungen

Laut InWIS-Erkenntnissen zeige sich die Überforderung einer zunehmenden Zahl von Wohnquartieren in Zahlen: 227 Stadtteile würden aktuell im Programm „Sozialer Zusammenhalt“ gefördert – doch mindestens 345 weitere zeigten ebenso kritische soziale Indikatoren, erhielten aber keinerlei Förderung. In vielen Großwohnsiedlungen lebten überdurchschnittlich viele Empfänger von staatlichen Transferleistungen, was zu einer Schrumpfung des Einzelhandelsangebots, zur Bildungssegregation und einem „Milieu der Ärmlichkeit“ führe. Auch die Altersstruktur vieler Quartiere habe sich in den vergangenen Jahren verändert: Der Anteil der über 65-Jährigen liege in manchen Vierteln bereits bei über 30 Prozent, Tendenz steigend.

Wohnungswirtschaft allein kann Probleme nicht lösen

„Unsere Analyse zeigt, dass wir es nicht mehr nur mit überforderten Nachbarschaften, sondern mit ganzen überforderten Quartieren zu tun haben“, erklärte Studienautor Torsten Bölting. „Diese Quartiere sind geprägt von einer Kumulation sozialerProbleme – von Kinder- und Altersarmut über Bildungsmisere bis hin zu Migration und Einsamkeit. Die Wohnungswirtschaft allein kann diese Probleme nicht lösen, obwohl sie vielerorts zentrale Integrationsarbeit leistet. Politik und Gesellschaft müssen jetzt strukturelle Antworten liefern – nicht irgendwann, sondern sofort.“

Die Wohnungswirtschaft allein kann die Probleme nicht lösen, obwohl sie vielerorts zentrale Integrationsarbeit leistet", weiß Torsten Bölting.

Die Studie verdeutliche zudem, dass viele Kommunen strukturell überfordert sind. Es fehlten nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch das Personal und die Kompetenzen, um die komplexen Herausforderungen in den Quartieren aktiv zu managen. Klassische Förderprogramme reichten nicht aus, um der Lage Herr zu werden. Vielmehr brauche es integrierte, langfristige Lösungen.

GdW schlägt Kompetenzstelle auf Bundesebene vor

Axel Gedaschko, Präsident des GdW, bestätigt die Forschungsbefunde, sie deckten sich mit den Quartierserfahrungen der Mitgliedsunternehmen. „Was unsere Wohnungsunternehmen melden, ist beunruhigend: Die Spannungen in den Quartieren nehmen zu, die Bereitschaft zur Integration nimmt ab. Und viele Kommunen sind längst an der Belastungsgrenze. Deshalb müssen jetzt Strukturen aufgebrochen, Ressourcen gebündelt und Kompetenzen verlagert werden.“ Er betont weiter: „Deutschland braucht eine zentrale Kompetenzstelle ‚Zusammenleben im Quartier‘ auf Bundesebene, mehr finanzielle und personelle Ressourcen für die lokale Quartiersarbeit sowie dringend eine Vereinfachung und Flexibilisierung der Förderrichtlinien.“

InWIS gibt klare Handlungsempfehlungen

Die InWIS-Untersuchung formuliert klare Handlungsempfehlungen: Das derzeit vorherrschende isolierte Nebeneinander staatlicher Zuständigkeiten müsse abgebaut werden. Dazu sollten alle relevanten Akteure an einen Tisch gebracht werden – von Kommunen und Wohnungswirtschaft bis hin zu Pflegekassen, Wohlfahrtsverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Es brauche neue Finanzierungsmodelle für die Daseinsvorsorge, eine systematische Evaluierung bestehender Sozialleistungen sowie regulär verfügbare, kooperative Fördermodelle vor Ort. Ziel sei es, aus überforderten Quartieren wieder stabile Nachbarschaften zu entwickeln, in denen funktionierende Infrastrukturen, Vertrauen und soziale Teilhabe den Zusammenhalt stärken. 

Redaktion (allg.)

Pixabay/ Mohamed_hassan
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