Editorial

Jetzt müssen wir schon an die Menschenrechte erinnern

Sie hat sich wirklich wohltuend beeilt, die neue Bundesregierung mit der Verabschiedung des sogenannten Bau-Turbos, dieses Gesetzentwurfs, den größtenteils bereits die Ampelregierung erarbeitete. Die Erwartungen in die Öffnung des Baugesetzbuchs sind sehr hoch, fast ein wenig überzogen. Der neue Paragraf 246e soll es möglich machen: Gemeinden können neue Wohnungen bereits nach einer zweimonatigen Prüfung ohne Aufstellung oder Änderung eines Bebauungsplans zulassen. Das heißt, es ist an den Kommunen, den Bau-Turbo zu zünden. Aber werden es die kommunalen Behörden auch tun? Werden sie für eine spürbare Linderung der Wohnungsnot bis 2030 sorgen?

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 Bild: Adobestock/ my_stock
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Je nach Standort haben bauwillige Wohnungsunternehmen ganz unterschiedliche Erfahrungen. GdW-Präsident Axel Gedaschko zeigte sich auf der Jahrespressekonferenz des Verbandes skeptisch. Es gebe sehr häufig große Widerstände. Umweltämter handelten zu oft nach dem Grundsatz: Am besten ist, wenn gar nicht mehr gebaut wird.

Der Bau-Turbo, das sei Kritikern gesagt, wird das Bewusstsein für die Bewahrung der Natur und eine planvolle Stadtentwicklung nicht zerstören. Diese politische Kultur ist so stark, dass der GdW angesichts des Beinahe-Stillstands im Wohnungsbau an das „Menschenrecht auf Wohnen“ erinnert. Das Recht auf angemessenen Wohnraum ist formuliert in Artikel 11 des UN-Sozialpaktes. Deutschland hat diesem Pakt zugestimmt, ein Land indem laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2021 (das hat sich bis heute sicher verschärft) rund 8,6 Millionen Menschen in überbelegten Wohnungen lebten. Das waren 10,5 Prozent der Bevölkerung. Als überbelegt gilt den Statistikern eine Wohnung, wenn sie über zu wenige Zimmer im Verhältnis zur Personenzahl verfügt. Lebensnah ausgedrückt bedeutet das: Eltern schlafen im Wohnzimmer, mehrere Kinder teilen sich ein Zimmer und haben keinen Platz, wo sie in Ruhe Schulaufgaben machen können, Teenager-Geschwister unterschiedlichen Geschlechts müssen sich ein Zimmer teilen.

Wenn solche Wohnverhältnisse das Ergebnis von Stadtentwicklung und Umweltschutz sind, ist das Abwägen rechtlich-politischer Werte falsch gelaufen. Der GdW erhofft sich jetzt „Aufbauhilfe“ von der Europäischen Union. Diese hat Ende 2022 mit einer „Notfallverordnung“ den beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien möglich gemacht. Die Übernahme dieser Verordnung würde dazu führen, dass in Genehmigungs- und Planungsverfahren das Interesse am Wohnungsbau in akuter Mangelsituation Vorrang genießen würde gegenüber anderen Einzelinteressen und rechtlichen Belangen. Ohne die Übertragung der EU-Notfallverordnung zum Ausbau der erneuerbaren Energien, so die Befürchtung des GdW, können zahlreiche Einzelgesetze nicht schnell genug an den deutschen Wohnungsbau-Turbo angepasst werden.

Bezahlbarer Wohnungsbau muss als überragendes öffentliches Interesse etabliert werden, damit Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigt und Einwände von Bedenkenträgern eingeschränkt werden können.

Hierüber gibt es keinen ausreichenden politischen Konsens und der legislative Mut ist nur in Ansätzen erkennbar.

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Thomas Engelbrecht

Thomas Engelbrecht
Chefredakteur

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