Kleinstädte, vernetzt Euch!
Kleinstädte stehen bisher wenig im Scheinwerferlicht, wenn es um Entwicklungspotenziale geht. Schnell heißt es, Kleinstädte hätten keine Zukunft infolge von Abwanderung, Überalterung, Leerstand und Verfall. Der Kleinstadtkongress in Wittenberge bot eine erfrischend andere Perspektive. Ausgerichtet wurde er von der seit 2024 in Wittenberge ansässigen Kleinstadtakademie, die vom Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen mit über zwei Millionen Euro gefördert wird. Das ambitionierte Programm ging unter anderem folgenden Fragen nach: Wie sind wechselwillige Großstädter anzulocken und erfolgreich „einzubürgern“? Mit welchen Konzepten können leerstehende Gewerbeflächen in Stadtzentren belebt werden? Wie lassen sich neue Wohnformen in kleinstädtischen Wohnungsmärkten etablieren?
Dietmar Woidke: „Kleinstädte brauchen eine Lobby“
In seinem Grußwort brachte der brandenburgische Ministerpräsident Dr. Dietmar Woidke (SPD) die zentrale Herausforderung von Kleinstädten auf den Punkt: „Wir brauchen eine Lobby für Kleinstädte“, sagte er, denn hier erlebten Bürgerinnen und Bürger Demokratie im Alltag. Sind die Erfahrungen negativ, brauche man sich über schlechte Wahlergebnisse nicht zu wundern, so der Ministerpräsident. In der Tat ist das Wählerpotenzial in den rund 2.100 deutschen Kleinstädten mit über 24 Millionen Menschen enorm – das ist ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Zum Vergleich: In den Großstädten hierzulande leben ungefähr 16 Millionen Menschen.
Schwächen in Stärken verwandeln
Die in politischen und öffentlichen Diskussionen dominierenden Themen beträfen in erster Linie Großstädte, insbesondere beim Wohnen, so Dr. Oliver Hermann, parteiloser Bürgermeister der Stadt Wittenberge, in seiner Eingangsrede. Dabei könnten Kleinstädte Lösungsanbieter für die Wohnraumproblematiken von großen Städten sein. Beispielgebend dafür steht seine Stadt, der es durch weitblickende aktive Maßnahmen zunehmend gelinge, Menschen aus Hamburg, Berlin und anderen Großstädten zu gewinnen. Maßgeblich trägt dazu bei die enge Kooperation mit der Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Wittenberge mbH (WSW) und aktuell die konstruktive Zusammenarbeit mit der „Baugruppe Burgstraße“, die ihren Traum vom Wohneigentum hier verwirklichen will. Zudem sorgte der 2019 veranstaltete „Summer of Pioneers“ für viel positive Aufmerksamkeit.
„Ich brauche nur 50 bis 100 Zuzügler pro Jahr, dann bin ich schon im leichten Wachstum“, so die Einschätzung von Bürgermeister Hermann. Die zu bekommen, müsste doch machbar sein. Notwendig sei, dass Kleinstädte ihre vermeintlichen Schwächen als Stärken begriffen und im Austausch und Verbund miteinander passende Modelle entwickelten, gerade weil die eigenen Mittel knapp seien.
Immobilienmärkte von Kleinstädten sind eine Black Box
Stichhaltige Daten über Angebot, Nachfrage, Miet- und Kaufpreisentwicklungen von Wohn- und Gewerbeimmobilien in Kleinstädten, aus denen Chancen und Risiken abzuleiten wären, gebe es indes kaum, stellte Dr. Annett Steinführer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Thünen-Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen, in ihrem Vortrag fest. „Derzeit sind die Immobilienmärkte von Kleinstädten weitestgehend eine Black Box.“ Transparenz soll eine neu gegründete Arbeitsgruppe der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL) bringen.
Kaufhaus-Transformation in Eigenregie
Auf dem Podium „Wohnungsbaugesellschaften als Motor für Stadtentwicklung“ moderiert von Lars Porsche, Projektleiter beim Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), stand die Rolle von kommunalen Wohnungs- und Entwicklungsgesellschaften als Immobilienentwickler im Mittelpunkt. Matthias Möller, Bürgermeister der Stadt Schlüchtern im Südosten Hessens, präsentierte das Projekt „Kaufhaus des Bergwinkels“ (KaDeBe), bei dem die rund 16.000 Einwohner zählende Kleinstadt in Eigenregie ein 2018 geschlossenes Warenhaus in ein 14.000 Quadratmeter großes Kultur- und Begegnungszentrum inklusive 5.000 Quadratmeter Wohnfläche umwandelte. Das 2021 fertiggestellte 12,5-Millionen Euro-Projekt habe ihm zwar einige schlaflose Nächte bereitet, weil seine Stadt eine solch innovative Quartiersentwicklung noch nie umgesetzt habe, so Möller. Rückblickend sei es richtig gewesen, die Entwicklung der leerstehenden Immobilie selbst in die Hand zu nehmen, und die Ergebnisse sprächen für sich: es seien bedarfsgerechte Wohnungen für Singles, Senioren und Familien, teilweise barrierefrei und teilweise als bezahlbarer Wohnraum entstanden. Und mit der Kindererlebniswelt, die 600 Quadratmeter umfasst und jährlich Tausende Besucher anzieht, sei ein attraktiver Frequenzbringer in den Ort geholt worden.
Im Verbund ist man weniger allein
Für Kleinstädte ohne eigene Immobiliengesellschaft käme eventuell die Bildung einer gemeinsamen Entwicklungsgesellschaft aus mehreren Nachbargemeinden in Betracht, schlug Bernhard Faller vom Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. (vhw) vor. Im Rahmen des Projektes "Interkommunale Entwicklungsgesellschaft" bündelten 2024 acht Kommunen in Ostwestfalen-Lippe unter Beratung des vhw ihre Kräfte, um lokale Entwicklungen anzustoßen und zu begleiten – von der Sanierung einzelner Gebäude bis hin zur Entwicklung ganzer Quartiere. Das Ziel sei, kommunale Potenziale zu bündeln, Prozesse zu professionalisieren und Investitionen gezielt in Ortskerne und bestehende Wohnstrukturen zu lenken.
Eine andere Option zeigte Faller anhand der Stadtregion Münster, bei der sich zwölf benachbarte Kommunen informell zusammenschlossen. Gemeinsam werden im Netzwerk interkommunale Konzepte und Strategien erarbeitet, mit dem Ziel, die Lebensqualität in der gesamten Stadtregion, einem Wohn- und Lebensraum für rund 500.000 Menschen, zu stärken.
Gelungener Auftakt macht Lust auf mehr
Der Auftakt des 1. Kleinstadtkongresses ist gelungen. Dazu trug außer der guten Organisation seitens der Kleinstadtakademie die Gastfreundschaft der Stadt Wittenberge bei, die sich herausgeputzt hatte, um ihre vielen erfolgreich realisierten Projekte zu präsentieren. Ein Highlight war die Baustellenführung durch das in der Sanierung befindliche Bahnhofsgebäude von 1846, durchgeführt von Bauamtsleiter Martin Hahn und Vertretern der für die Projektumsetzung zuständigen stadteigenen Wohnungsbaugesellschaft WSW. Nach Abschluss der Umbauarbeiten im April 2025 soll das Denkmal zu einem modernen Mobilitätsknoten umgestaltet werden, der neben einer Gastronomie, einem Bäcker und einem Wartebereich auch einen Ticketverkauf und eine Mobilitätszentrale beherbergt. Für den 2. Kleinstadtkongress ist geplant, neben Erfolgsprojekten auch die Ursachen von fehlgeschlagenen Vorhaben zu beleuchten.
Dagmar Hotze
