Editorial

Können Staatsschulden wirklich Sünde sein, Herr Lindner?

Die Interessenverbände der Wohnungs- und Bauwirtschaft haben sich von ihren Forderungen nach milliardenschwerer staatlicher Unterstützung für den Wohnungsbau verabschiedet. Ein neuer Realismus ist spätestens mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eingekehrt, das die Verwendung der Corona-Hilfsmilliarden für andere Staatsaufgaben für unzulässig erklärte.

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 Bild: Adobestock/ my_stock
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Bei den Akteuren, die sich der Schaffung von Wohnraum als wesentlicher Aufgabe staatlicher Daseinsvorsorge verpflichtet fühlen, wächst die Einsicht, dass andere Aufgaben mindestens ebenso wichtig, wenn nicht dringlicher sind. Rüstungsausgaben zum Beispiel angesichts des Angriffskrieges des Tyrannen im Kreml. Schon vor dem Überfall auf die Ukraine war deutlich: In Deutschland bröckeln Straßen, Schienen und Brücken, die Bildungsinfrastrukur ist mangelhaft, Gebäude sind veraltet und es fehlt an Infrastruktur für Strom, Wasserstoff und Wärme.

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und das Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) haben gerechnet: 600 Milliarden Euro – Diese Summe könne Deutschland in den nächsten zehn Jahren voranbringen, das Bildungssystem verbessern, den Investitionsstau in den Kommunen beseitigen, Straße und Schiene verbessern und die Dekarbonisierung ermöglichen. Beide Institute hatten den zusätzlichen öffentlichen Investitionsbedarf für die folgenden zehn Jahre 2019 schon einmal beziffert – damals auf mindestens 460 Milliarden Euro. Zur Milderung des Wohnungsmangels sehen die Institute aktuell einen Investitionsbedarf von zusätzlich 37 Milliarden Euro für Sozialwohnungen, verteilt über zehn Jahre.

Der Investitionsbedarf mag 400 oder 600 Milliarden betragen, entscheidend ist doch: der Staat muss handlungsfähig werden, wollen wir nicht die Richtung eines „failed state“, eines gescheiterten Gemeinwesens, einschlagen. Der Staat muss mehr Schulden machen, der Bundestag muss mit einer Dreiviertelmehrheit für eine Lockerung der verfassungsmäßigen Schuldenbremse stimmen.

Natürlich muss eine Regierung auch Maß halten. Inflation und Staatsbankrott sind keine Optionen. Aber das im Bundesfinanzministerium herrschende Budget-Dogma gefährdet das Gemeinwesen. Rückblick: Am Ende der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder 2005 galt Deutschland als der kranke Mann Europas. Hohe Arbeitslosigkeit, kaum Wirtschaftswachstum, Staatsverschuldung. Damals hieß es, die Enkel werden die angehäuften Lasten nicht tragen können. Doch es brauchte nur rund ein Jahrzehnt ordentliches Wirtschaftswachstum und der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble konnte Bundeshaushalte ohne neue Schulden aufstellen und alte Staatschulden begleichen.

Perspektivisch gedacht ist beides möglich: Kräftige Investitionen in den Wohnungsneubau und eine nachhaltige Finanzpolitik, die die nachfolgende Generation nicht überfordert, sondern ihr im Gegenteil ein lebenswertes Land überträgt.

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Thomas Engelbrecht

Thomas Engelbrecht
Chefredakteur

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Artikel Können Staatsschulden wirklich Sünde sein, Herr Lindner?
Seite 3
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