Serienteil 1: Nachhaltigkeit bei den Projekten der IBA’27

„Wir haben nur ein Umsetzungsdefizit“

Die Internationale Bauausstellung (IBA) findet 2027 in der Region Stuttgart statt. Seit 2017 schafft die IBA’27 mit einer eigenen Geschäftsstelle dafür die Strukturen und identifiziert Bauvorhaben in der Landeshauptstadt und den fünf Landkreisen drumherum mit ihren 2,8 Millionen Einwohnern. Teil des 21-köpfigen Teams ist die Geographin Stefanie Kerlein, die den Bereich Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft innerhalb der Projekte verantwortet.

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 Bild: IVV
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Geographin Stefanie Kerlein verantwortet im Stuttgarter IBA’27-Team Kreislaufwirtschaft und Teilhabe

„Wir haben kein Wissens-, sondern ein Umsetzungsdefizit,“ sagt Stefanie Kerlein. Die IBA’27 verstehe sich als Schnittstelle, Planungsansätze zwischen Kommunen, Investoren und Architekten zu moderieren und Themen wie Teilhabe oder Kreislaufwirtschaft zu integrieren. Dafür hat die 36-Jährige ihr Diplom in Geographie an der Uni Tübingen sowie ihren Master in Architektur und Umwelt an der WINGS GmbH Hochschule Wismar gemacht.

Ihre große Leidenschaft war immer schon, fremde Kulturen in fernen Ländern wie Äthiopien oder Kuba zu entdecken, sowie Verbindungen natur- und gesellschaftswissenschaftlicher Perspektiven zu ergründen, die auf der Geographie basieren. „Die Kunde von unserer Erde als Studium Generale wird gerne unterschätzt,“ sagt die Schwäbin, die ab 2011 Berufspraxis in Stadtentwicklung und Wohnungsbau sammelte. Bald merkt sie, dass sie die gebaute Umwelt tiefer durchdringen will, weshalb die Freizeitsportlerin berufsbegleitend Architektur und Umwelt studiert.

Projektvorschläge aus 179 Kommunen

Auch hier nimmt Kerlein wahr, dass die Kommilitonen eher das einzelne Gebäude interessiert, während sie das gesamte bebaute Ensemble im Kontext seiner Historie und Infrastruktur betrachtet. Entsprechend findet die Kunst- und Design-Interessierte 2019 ihren Traumjob als sie Teil des IBA-Teams wird.

Hier sind mittlerweile 140 Projektvorschläge aus den 179 Kommunen der Region Stuttgart eingegangen, die auf beraterische Unterstützung in der Planung, Fördergelder, den Werbeeffekt der IBA und das internationale Know-how hoffen, das sie durch das IBA-Team und dessen Kuratorium erhalten können.

Mittlerweile sind 75 Vorhaben in der Sichtung und 14 konkret als IBA’27-Projekte identifiziert und bewilligt, in die die Kommunikatorin ihre Expertise einbringt. Das geschätzte Investitionsvolumen allein der ersten Projekte liegt bei drei Milliarden Euro, umfasst 8.500 Wohneinheiten und 9.000 Arbeitsplätze. Dabei ist das Prozedere immer dasselbe: „Wir analysieren die Areale, gleichen deren Möglichkeiten mit dem Baurecht ab, betrachten die aktuellen und die zukünftigen Nutzungen und stimmen das Ganze mit dem Bedarf vor Ort und der Bevölkerungsentwicklung ab – stets mit der Vision, bestehende Prozesse zu transformieren und transparent zu machen.“

In herkömmlichen städtebaulichen Planungsverfahren würden sämtliche Inhalte oft isoliert und nacheinander bearbeitet; bei der IBA’27 experimentiert man dagegen mit innovativen, integralen Planungsansätzen, um die Zahl der Beteiligten zu reduzieren und Reaktionszeiten zu verkürzen. Kerlein: „Durch den integralen Ansatz halten wir die Komplexität in allen Bereichen handhabbar, ohne wichtige Aspekte zu vergessen oder zu wenig zu würdigen und schaffen ein hohes Maß an Flexibilität.“

Recycling und Reduktion der Grauen Energie sind integrale Aspekte

Für die Geographin ist beispielsweise die Integration von Nachhaltigkeitsaspekten bereits in der Phase 0 des Planungsprozesses essentiell. Wie können die Umweltauswirkungen des Bauens so gering wie möglich gehalten werden, Gebäude langlebig und multifunktional designt werden? Es geht nicht nur um die Minimierung der „Grauen Energie“ und des CO2-Verbrauchs von Materialien, sondern auch um deren minimalen Einsatz sowie der Integration eines Abbruch- und Wiederverwendungskonzepts. „Wir wollen mit solchen Nachhaltigkeitsthemen das Bewusstsein lokal schärfen und zum Umdenken sowie Handeln auffordern“, sagt die Umweltexpertin, die ihrerseits in einem internationalen Netzwerk im Austausch steht. Eine Idee ist die Visualisierung von Gebäuden aus IBA’27-Projektorten auf einer digitalen Plattform in 3D sowie die digitale Erfassung der Materialien. Damit könnte aufgezeigt werden, an welcher Stelle in welchem Umfang Material im Bestand abgebrochen und möglichst an anderer Stelle in Neubauten bei den IBA’27-Projekten verwendet oder recycelt wird.

Konkret arbeitet Kerlein aktuell an einer ehemaligen Spinnerei. In das historische Industriequartier sollen später Betriebe einziehen, die etwa Strom aus dem Neckar beziehen. Die Sanierung soll mit recyclingfähigen Baumaterialien aus der Region erfolgen. Zusammen mit der Kommune entwickeln Kreative, Gestalter, Planer und Ökonomen hier ein neues produktives Quartier mit der Vision: „Nachhaltig wirtschaften & gesund Leben“.

Die Geographin: „Das Industriequartier zeigt, wie hoch der Kommunikationsbedarf durch die komplexe Aufgabe ist; die Bedarfe der Eigentümer, Planer, Kommune, Fachleute und Bürger in einer gemeinsamen Vision zu vereinen.“

Mit Argumenten und Leidenschaft gegen verkrustete Denkstrukturen

Da die IBA’27 weder Immobilien besitzt, noch über viel Geld verfügt, arbeitet sie moderierend, beratend und inspirierend mit Experten, Planern, Politikern und Bürgern und unterstützt dabei, Fördermittel zu erhalten. Unternehmen vor Ort sind als Investoren, Nutzer oder Hersteller von Lösungen wichtige Partner. Und schließlich macht das internationale Netzwerk der IBA’27 samt Wissenstransfer die Kooperation reizvoll: Selbst aus Kambodscha oder Kolumbien reichen Architekturbüros Vorschläge ein.

Die Aufbruchstimmung der IBA’27-Macher, hinter denen Stadt und Region Stuttgart, aber auch die Architektenkammer und Hochschulen stehen, zeigt Wirkung: Einen Großteil des Widerstands, auf den die Akteure in teils verkrusteten Strukturen treffen, können sie mit Argumenten, Geduld und ihrer Leidenschaft für das Neue und Nachhaltige ausräumen. „Meine Überzeugung und meine Kommunikationsfreude, die ich bei meinen vielen Reisen verfeinert habe, kommen mir hier zugute,“ sagt die gebürtige Göppingerin.

www.iba27.de

>> BW-Ministerpräsident Kretschmann besuchte Vorzeigeunternehmen, das seit 2010 Maßstäbe setzt in der Aufbereitung und Wiederverwertung von Abbruchmaterial. "80 Prozent der Gebäude sind recycelbar"

SERIE IN DER IVV: Nachhaltig bauen ist längst möglich

Der Hochbau verantwortet weltweit 40 Prozent aller CO2-Emissionen und 50 Prozent des gesamten Müllaufkommens. Die Alternativen sind organische und standortnahe Baustoffe wie Holz oder Lehm, geschlossene Kreisläufe für mineralische, metallische oder kunststoffhaltige Materialien sowie neue Verfahren wie Leichtbau und hybride Bauweisen. Weil viele Bauherren und Architekten diese Verfahren aber noch nicht kennen bzw. ihnen nicht vertrauen, beleuchten wir sie in einer Serie, um ihnen möglichst rasch zum Durchbruch zu verhelfen.

Teil 1: Nachhaltigkeit bei den Projekten der IBA’27 in Stuttgart: Geografin Stefanie Kerlein verantwortet im Stuttgarter IBA’27-Team Kreislaufwirtschaft und Teilhabe. Kerlein sagt: „Wir haben kein Wissens-, sondern ein Umsetzungsdefizit.“ (aus IVV 03/22)

Teil 2: Holz ist als nachwachsender Rohstoff im Hausbau seit Jahrtausenden bewährt. Mittlerweile werden weltweit Gebäude bis 100 Meter Höhe mit 30 Etagen damit gebaut, weil sie auch Brandschutz und Statik berücksichtigen. Balken, Bretter und verleimtes Brettschichtholz binden zudem CO2 und können nach 100 Jahren oft nochmals wiederverwendet werden. (aus IVV 04/22)

Teil 3: Lehm ist als organischer Baustoff weltweit vielerorts verfügbar und dient vor allem in armen Ländern zum Bau von Hütten. Hierzulande machte die neue Alnatura-Zentrale in Darmstadt mit der europaweit größten Stampflehmfassade 2019 den „Arme-Leute-Baustoff“ populär. Lehm reguliert sehr gut Hitze, Kälte und dämmt den Schall, weshalb ihn immer mehr Architekten entdecken. (aus IVV 05/22)

Teil 4: Hanf, Bambus, Stroh, Schilfrohr, Weide, Rattan oder Rinde sind teils binnen eines Jahres erntereif und binden CO2. In armen Ländern wird schon immer damit gebaut. In Frankreich sind so mittlerweile 6000 Gebäude entstanden, bundesweit immerhin 450. Laut Fachverband Strohballenbau verteuert Strohdämmung ein Gebäude um zwei bis acht Prozent, spart aber immense Heizkosten. ( aus IVV 06/22 )

Teil 5: Leichtbauweise kann den Materialverbrauch massiv senken. An der Uni Stuttgart nehmen sich Architekturforscher Kakteen zum Vorbild, deren innere, netzartige Holzfaserkonstruktion die Pflanzen stabil und belastbar macht. Werner Sobek steht für solche bionischen Verfahren bei Beton. Auch Hybrid-Bauweisen, z.B. Holz-Beton, sparen tonnenweise Material.( aus IVV 07-08/22)

Teil 6: R-Beton, recycelter Bauschutt, steht stellvertretend für geschlossene Kreisläufe im Hochbau, bei denen Materialien immer wieder zum Einsatz kommen, wenn nach 50 oder 100 Jahren deren Lebenszyklus in einem Gebäude endet. Dazu zählt auch der aufkommende Handel mit gebrauchten Materialien, Stichwort Madaster, auf Online-Plattformen.

Teil 7: Dämmen mit Biomasse, Lederresten oder zu Popcorn erhitztem Mais sind ein weiteres Thema, das wir in dieser Serie darstellen können. Weil derzeit aber dermaßen viele neue Verfahren serienreif werden, sich gesetzliche Rahmenbedingungen ändern und wir eventuell Anregungen für diese Serie bekommen, wollen wir den weiteren Teil vorerst offenlassen.

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Leonhard Fromm

Leonhard Fromm
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Artikel „Wir haben nur ein Umsetzungsdefizit“
Seite 38 bis 39
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